Eine Woche danach: Presseschau für den ESC 2019

Foto: Thomas Hanses

Dem ESC-Gott sei Dank, gab es das Madonna-Desaster im ESC-Finale. Sonst hätte die etablierten Medien gar nix gehabt, an dem sich sich reiben können. Ein braver Sieger mit einer ESC-typischen balladesken Hymne, Deutschland wie oft gehabt „unter ferner liefen“, Zypern gibt 2×12 Punkte an Griechenland, Griechenland gibt 2×12 Punkte an Zypern, alle Mitglieder der georgischen Jury habe unisono Russland auf dem letzten Platz, also alles gefühlt irgendwie wie immer. Wir haben eine (überschaubare) Tour durch die Presselandschaft unternommen.

Schon im Vorfeld war der Auftritt von Madonna das am meisten publizierte Thema rund um den ESC 2019 (kommt sie oder kommt sie nicht?) und danach war ihre Selbstdemontage sowohl in den sozialen als auch in den etablierten Medien der stärkste ESC-Aufreger. Am besten hat es Barbara Schöneberger direkt in der Finalnacht zusammengefasst: „Alle haben besser gesungen als Madonna.“

Der enttäuschend-bizarre Madonna-Auftritt führte auch dazu, dass das Abschneiden Deutschlands in diesem Jahr nur sehr überschaubar Unruhe in der Presse hervorrief, wahrscheinlich auch deshalb, weil die Rückstufung des deutschen Beitrags auf einen (erneut) vorletzten Platz von der EBU und Digame erst nach vier Tagen veröffentlicht wurde, als sich außerhalb der Bubble noch kaum jemand für den ESC interessierte.

Wieso es vier Tage braucht, um einen offensichtlichen Algorithmus-Fehler zu korrigieren, bleibt das Geheimnis der EBU und verliert sich in den Nebeln von Norwegen. Dieses Totalversagen ist weitaus peinlicher als der Stimmbandausfall von Madonna, jedoch nicht so boulevardesk und nicht so einfach greifbar und daher für die breite Öffentlichkeit nicht von Interesse. Wobei die dpa immerhin die ESC-kompakt-Berichterstattung in einer Pressemitteilung aufgegriffen hat.

So ist die Presseausbeute in diesem Jahr ähnlich defensiv wie es der deutsche Beitrag war und das, was der NDR dafür (nicht) getan hat. Nobody cares again.

Nicht einmal auf Anja Rützel von SPON ist Verlass. Sie hat zwar beide Halbfinalshows rezensiert (das erste hier und das zweite hier), beim Finale aber nur eine Art Chat mit mehreren KollegInnen geführt.

Nur auf Hans Hoff ist Verlass, er liefert in der SZ seine einfach vorhersehbaren Stanzen in Dinner-for-one-Manier als „same procedere as every year“, bezeichnet den ESC genüsslich als „internationalen Trällerbewettbewerb“, empfindet Madonnas Auftritt als „Bankrotterklärung“ (so wie alle anderen halt auch) und hat „fast“ Mitleid „mit der deutschen ESC-Abteilung, die seit 2013 nur noch krachende Misserfolge einfährt und lediglich im Jahr 2018 mal kurz Freude empfinden durfte.“

Weniger Mitleid hat Peter-Philipp Schmitt in der FAZ. Er beklagt, dass die ernsthafte Botschaft des deutschen Songs – ganz anders als z.B. bei Italien –  nicht rübergekommen ist. Und weiter:

„Was lief sonst noch schief bei den S!sters? So einiges. Eine viel gestellte Frage in Tel Aviv war: Sind das wirklich Schwestern? Und wenn nicht, warum heißen die dann so? Letztlich haben die deutschen Zuschauer entschieden, das kurzfristig zusammengecastete Duo mit „Sister“ nach Tel Aviv zu schicken. Zuvor aber hatte der NDR über Monate sechs andere Kandidaten aufgebaut, mit einem eigens organisierten Songwriting Camp, zu dem 25 internationale Songwriter eingeladen wurden. Das alles wurde in den Wind geschrieben, weil man so von dem Lied „Sister“ überzeugt war, dass man noch schnell die „Retortenschwestern“ aus der Taufe hob.“

In diese Kerbe schlägt auch ESC-kompakt-Blogger Benny im Interview mit dem Medienmagazin „Die Mediatheke“ auf massengeschmack.tv (die Folge ist allerdings nur für Abonnenten verfügbar) und spricht sich dafür aus, die deutsche Vorentscheidung 2020 wieder in der 2018er-Fassung durchzuführen (mehr dazu auch demnächst hier auf ESC kompakt).

Und eine ebenfalls ähnliche Bewertung kommt von – dramaturgische Pause – Peter Urban. Bezeichnenderweise ist sein ULfI-Kommentar die spannendste Veröffentlichung und sogar kurz VOR dem ESC-Finale erschienen, und zwar in Form eines sehr langen Interviews der Kollegen von ESCXTRA mit Peter Urban. In diesem Interview übt Peter Urban schon VOR den (inzwischen) geflügelten Worten von Bar Rafaeli „I’m sorry… zero points“ sehr sophisticated, aber dennoch deutlich retrospektive Kritik an diesjährigen deutschen Vorentscheid:

„This year was sort of a difficult year because there were six songs that came through the songwriting camp. And there were singers selected and there were songs with various composers. One song was already taken from the Swiss pool [of songs] and that won. They were searching for two singers, they found two singers. They sang the song well and they won, which is not really the principle of what this pre-selection should have been. Last year, Michael Schulte was selected as a singer then he wrote his song. He wrote it together with other composers and that was it. So, I don’t know if this type of pre-selection will go on next year as well. (…) To me, none of the candidates were edgy enough or interesting enough.“

Well.


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5 Comments
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Branko
Branko
4 Jahre zuvor

Während und nach dem ESC klang Peter Urban aber nicht mehr so objektiv wie in dem Interview von ESCXTRA.

Festivalknüller
Festivalknüller
4 Jahre zuvor

Schon ziemlich bitchy von Madonna, dem Sieger so sehr die Aufmerksamkeit in der Presse zu stehlen.

Rafa
Rafa
4 Jahre zuvor

Toller Artikel!

Mariposa
Mariposa
4 Jahre zuvor

Vernichtendes Urteil über den NDR und dem deutschen Beitrag in der Frankfurter Rundschau. Leider alles treffend auf dem Punkt gebracht.