Gastartikel: Wie TIX aus Norwegen den ESC inklusiver macht als alle bisherigen behinderten Künstler*innen

Ein Gastbeitrag von ESC-kompakt-Leserin Caro

Nach langem Warten haben wir wieder einen ESC. Endlich! Wie spätestens allen bewusst sein sollte, seit Conchita Wurst 2014 mit „Rise Like A Phoenix“ gewann, zelebriert der ESC nicht nur Musik, sondern auch Diversität. Die Schönheit der Vielfalt. Doch so divers wie sich der ESC gibt, ist er oft nicht wirklich. Besonders häufig vergessen: Menschen mit Behinderungen. Klar es gibt bemerkenswerte Ausnahmen. Polen 2015 mit Monika Kuszyńska mit ihrem Song „In The Name Of Love“ oder Russland 2018 mit Julia Samoylova und dem Song „I Won’t Break“. Nicht zu vergessen Deutschland 2002 mit Corinna May und „I Can’t Live Without Music“.

Doch irgendwie hatte das oft einen faden Beigeschmack. Irgendwie wurde man nie das Gefühl los, dass sich für einige dieser Künstlerinnen entschieden wurde, um Mitleidspunkte zu generieren. Natürlich waren die Songs auch immer passend zum Thema Behinderung, auch wenn sie auf der Bühne immer verborgen wurde. So versteckte das russische Team sogar den Rollstuhl von Julia Samoylova auf der Bühne unter einem überdimensionierten Berg. Auch das polnische Team schnitt zumindest das Musikvideo so „geschickt“, dass kein einziger Teil ihres Rollstuhls zu sehen war. Gleichzeitig schwelgte die Künstlerin (die aufgrund eines Verkehrsunfalls einen Rollstuhl nutzt) in alten Bildern. Bildern, auf denen sie läuft.

Dieses Verhalten ist durch und durch zweideutig. Zum einen wird suggeriert „starker Mensch mit Behinderung braucht keine Mitleidspunkte“, andererseits ist es genau das, was durch die Songs bezweckt wird. Die Behinderungen der Künstlerinnen wurden nie als natürlich gegeben hingenommen.

Auch dieses Jahr gibt es einen Kandidaten mit Behinderung im Wettbewerb: TIX aus Norwegen mit dem Song „Fallen Angel“. Der Sänger, der mit dem Tourette-Syndrom lebt und durch seine (Achtung) Tics seinen Künstlernamen erhielt, versteckt seine Behinderung nicht, ganz im Gegenteil, es wurde sogar eine 45-minütige Doku über ihn auf dem YouTube Kanal des ESCs veröffentlicht.

Zu seinen Markenzeichen gehören sein Stirnband mit der großen Aufschrift TIX und eine große verspiegelte Sonnenbrille. Die hilft ihm, seine Tics besser zu kontrollieren und es funktioniert: Der unwissende Zuschauer wird am 22. Mai nicht merken, dass Andreas Haukeland, so mit bürgerlichen Namen, mit dem Tourettesyndrom lebt.

Ein weiterer Punkt an TIX ist sehr bemerkenswert. Anders als die zuvor genannten Künstlerinnen ist er bereits ein erfolgreicher Künstler in Norwegen. Die Leute kennen ihn. Besonders die norwegischen Abiturient*innen. Er ist in der Lage, mit seiner Musik ganze Stadien von kreischenden Teenies zu füllen. Denn vor seiner Bewerbung beim norwegischen Vorentscheid war er vor allem für seine Abschlusslieder bekannt, die auf den Abibällen und Abschlusspartys des Landes gespielt wurden. Eine Musikrichtung, die beim ESC vollkommen unbekannt ist, und am ehesten mit der hier bekannten Ballermannmusik verglichen werden kann. Sein Song „Fallen Angel“ ist ein absoluter Stilbruch zu seinem bisherigen Schaffen und sicherlich mit einer gehörigen Portion Ironie zu genießen.

Und das ist es, was hoffen lässt auf einen noch diverseren ESC. TIX trägt seine Behinderung nicht wie eine Monstranz vor sich her. Er verleugnet sie aber auch nicht. Ja, ein großer inhaltlicher Teil der Songs ist auf seine Behinderung zurückzuführen (wie das Musikvideo so treffend in Szene setzt), aber eben nicht nur. Sein bisheriger Erfolg lässt ihn gefestigt auf der Bühne stehen, lässt seine Behinderung zweitranging werden. Er wird nicht von seinem Land nach Rotterdam geschickt, weil er behindert ist. Nein, er wird hingeschickt, weil die Menschen ihm und seinem Song gute Chancen ausrechnen und „Fallen Angel“ mögen. Ihn sogar besser finden als die Zweitplatzierten KEiiNO, die schon 2019 bei ESC in Tel Aviv waren und dort Gewinner des Publikumvotings wurden.

Natürlich ist es leichter, eine nicht unbedingt sofort sichtbare Behinderung weniger in den Fokus zu stellen. Aber durch die krasse Ironie, die von überdimensionierten Engelsflügeln und tanzenden Dämonen noch verstärkt wird, pflegt er einen deutlich lockereren Umgang mit seiner Behinderung als das bisher auf der ESC-Bühne der Fall war. Und das führt dazu, dass er als behinderter Künstler vor allem eines sein kann: Ein Künstler, der nicht nach seiner Behinderung, sondern rein nach seiner Leistung bewertet werden kann.

Über die Autorin:

Caro ist Journalismus-Studentin und ein großer ESC-Fan. Den ersten ESC, den sie gesehen hat, war 2010 mit dem Sieg von Lena. Dass Deutschland nicht immer den ersten Platz belegt, musste sie in den darauffolgenden Jahren schmerzhaft lernen. Aufgrund einer Muskelerkrankung nutzt sie im Alltag einen Rollstuhl.


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Alemino
Alemino
2 Jahre zuvor

Danke Caro für diesen wichtigen Artikel und den sehr treffenden letzten Satz. Ich sehe das exakt genauso. Übrigens gibt es auch ein sehr berührendes Interview vom NRK mit Tix als Andreas ohne Sonnenbrille (mit englischen Untertiteln). Vor Tix habe ich höchsten Respekt und fand es sehr traurig, wie gegen ihn geschossen wurde, als er den MGP gewann. Umso doller drücke ich ihm die Daumen, dass es nun für die Finalqualifikation reicht.

togravus ceterum
Mitglied
togravus ceterum
2 Jahre zuvor

Schöner und wichtiger Gastbeitrag, vor allem weil die meisten Fans zunächst an Dana International und Conchita Wurst denken, wenn beim ESC über Inklusion gesprochen wird. Alter ist auch solch ein Thema, das häufig hinten runterfällt.

Gaby
Gaby
2 Jahre zuvor

Ja, ich denke, es schadet nichts, mal über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.😉

eurovision-berlin
eurovision-berlin
2 Jahre zuvor

Die wichtigsten und überzeugendsten Vertreter wurden hier vergessen: Pertti Kurikan Nimipäivät. Diese finnische Punkband hatte einen sehr guten Auftritt hingelegt, und keiner wusste es zu würdigen.

togravus ceterum
Mitglied
togravus ceterum
2 Jahre zuvor

An die habe ich auch gleich gedacht. Das hat uns einmal mehr gezeigt, dass die meisten Menschen das normativ Gestanzte und Hochglanzpolierte mögen. 🙁

Thomas
Thomas
2 Jahre zuvor

Die Zuschauer wussten es wohl zu würdigen und haben es sogar im Televote auf einen Finalplatz gewertet

Hendi
Hendi
2 Jahre zuvor

Es geht halt eben auch um die Musik. PKN hatten einen tollen Auftritt, aber das Lied ist aus meiner Sicht – um es mal nett zu sagen – unanhörbar. Ich bin mir sicher, viele sahen es genau so. Und warum sollte man für ein Lied, das man nicht mag, abstimmen? Das wäre ja dann wieder der Behindertenbonus.

Gaby
Gaby
2 Jahre zuvor

Welch toller Artikel, vielen Dank dafür.🙂

Es ist ein sehr wichtiges Thema, dass Behinderte in die Mitte der Gesellschaft gehören, und nicht an den Rand.
Ich habe Künstlerinnen im Rollstuhl auf der Bühne als Teil der Inklusion wahrgenommen, und den Ländern nicht unterstellt, dass sie Mitleidspunkte erhalten wollen.
Ich denke auch, dass TIX als Künstler wahrgenommen werden will, und nicht als Mann mit Tourette-Syndrom. Er transportiert aber mit seinem Song eine wichtige Botschaft und dafür wünsche ich ihm den Finaleinzug.

Der Thorsten von der Küste
Der Thorsten von der Küste
2 Jahre zuvor

Wenn man von Künstlern mit Behinderung beim ESC berichtet, dann ist diese Gruppe für mich das „Maß aller Dinge“ – selten hat mich so ein Act so berührt. Ich hatte wirklich „Pipi in den Augen“ …..und im Gegensatz zu TIX finde ich diese Gruppe super sympathisch.

Gaby
Gaby
2 Jahre zuvor

Ja, die Shalva Band war echt toll.😊

Benjamin Hertlein
Admin
Tobiz
Mitglied
Tobiz
2 Jahre zuvor

Tix wird dank Gewitter im Kopf gute Stimmen aus Deutschland bekommen.

Jan
Jan
2 Jahre zuvor

Puh, so oft das Wort „Behinderung“…

Künstler mit Einschränkungen oder sonstwie gearteten persönlichen oder körperlichen Besonderheiten und Eigenarten sind immer eine Bereicherung für den Contest – das ist Diversität. Da stimme ich der Autorin ausdrücklich zu.

Der Vergleich zwischen den genannten früheren Acts aus Deutschland, Russland und Polen einerseits und TIX andererseits verbietet sich m.E. nach aber komplett, weil es ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen ist. Zum einen, weil Tourette gar keine „Behinderung“ im herkömmlichen Sinn ist, sondern ein Syndrom mit einer solchen Facettenvielfalt, dass man gar nicht genau weiß, wo es anfängt und wo es aufhört. Genau genommen ist man aber als Betroffener davon auch nicht eingeschränkt. Es ist einfach ein vollkommen andere Kategorie als z.B. Blindheit oder Querschnittslähmung. Als vom Tourette-Syndrom selbst Betroffener kann ich das ganz gut beurteilen, denke ich. Da hätte man auch eine adipöse Destiny zum Vergleich heranziehen können, was genauso abwegig gewesen wäre.

TIX nimmt man übrigens nur als Betroffenen des Tourette-Syndroms wahr, weil er seinen Künstleramen nach den Symptomen ausgewählt hat und nicht müde wird, immer wieder zu erwähnen, dass er Tourette hat. Soviel zum Thema „Monstranz“. Ist völlig legitim, aber auch ein Stück weit berechnend. Wie bei allen, die beim ESC irgendetwas verarbeiten. Davon gibt es eine Menge und das ist auch gut so, weil es m.E. zur kreativen Vielfalt beiträgt und viele Beiträge zu etwas Besonderem macht.

JoBi
JoBi
2 Jahre zuvor

Ein sehr schöner Artikel und auch interessant. Ich gebe zu ich habe das Tourette-Syndrom nicht so als Behinderung wahrgenommen (Ist nicht böse gemeint). Ich selber habe eine Behinderung, eine Hörschädigung.

Gaby
Gaby
2 Jahre zuvor
Reply to  JoBi

Ja, das ist eine Einschränkung, die man nicht direkt sieht.
Es ist auch ein bißchen schwierig: Ich weiss noch, dass früher das Wort „Behinderung“ als Schimpfwort mißbraucht wurde, gerade bei jungen Leuten. Deshalb hören viele Betroffene das nicht so gerne.
Ich persönlich finde das Wort jetzt auch nicht so schlimm. Es ist halt eine körperliche oder mentale Eigenschaft. Ich selbst bin sehbehindert und gehbehindert, von daher, ich bin auch betroffen.

Octavio
Octavio
2 Jahre zuvor

Ein schöner und auch wichtiger Beitrag. Gesundheit ist nicht selbstverständlich!
Und nett, dass sogar einer unserer eigenen Beiträge (Corinna May) zumindest am Rande erwähnt wurde…

Alf Igel
Alf Igel
2 Jahre zuvor

Ein toller und sehr wertvoller Artikel!
Ich glaube, dass TIX viel weiter kommen wird als die meisten denken. Klar ist das sehr subjektiv, aber von den derzeitigen Top5 in den Wettquoten kann ich mir niemanden als Sieger vorstellen, Malta und Schweiz sind viel zu nah an Netta und Duncan dran, und Italien und vor allem Frankreich werden wie jedes Jahr hinter den Erwartungen zurückbleiben. Entweder gewinnt dieses Jahr die zugegeben etwas schnulzige Liebesballade aus Norwegen, da sie mit ihrer schönen Botschaft einen sweet spot bei Publikum und Juries trifft, oder die Dance Hymne aus Litauen, die mit der strangesten Performance heraussticht und deren Text einfach den Zeitgeist trifft 🙂

Al
Al
2 Jahre zuvor

Hallo,
danke für diese wichtige Sicht auf diesen Aspekt! Allerdings fände ich es passender wenn nicht von „behinderten Künstlern/ Menschen“ gesprochen, bzw geschrieben wird, sondern von „Menschen/ Künstlern mit einer Behinderung“, weil der Hauptaspekt auf dem Menschen/Künstler und nicht auf der Behinderung liegt.