Kommentar: NDR verfehlt wieder alle seine ESC-Ziele – Es muss sich etwas ändern

Bild: EBU / Thomas Hanses

Jahr für Jahr hoffe ich, dass der deutsche ESC-Beitrag möglichst gut beim Eurovision Song Contest abschneidet. Ganz unabhängig davon, ob der Song mein persönlicher Favorit ist oder ob er mir gefällt. Wenn nach der Songveröffentlichung der Erfolg in Deutschland ausbleibt, hoffe ich, dass er international besser ankommt. Wenn die Wettquoten den Beitrag ganz unten sehen, hoffe ich, dass die Performance die Wende bringt. Wenn bei der erste ersten Probe am Austragungsort nichts zusammenpasst, hoffe ich, dass es bis zur zweiten Probe besser wird. Wenn dann immer noch alle sagen, dass der Song schlecht abschneiden wird, hoffe ich, dass es wenigstens ein paar Punkte gibt und Deutschland nicht ganz hinten landet.

Jahr für Jahr werde ich enttäuscht und das (je nach Rechnung und mit Ausnahme von 2018) jetzt schon seit acht oder neun Jahren. Ich weiß, die Aufgabe des deutschen ESC-Beitrags ist es nicht, mich glücklich zu machen, aber der deutsche Beitrag erfüllt auch Jahr für Jahr die Ziele nicht, die die Verantwortlichen des NDR sich selbst setzen: Einen Hit am heimischen Markt zu landen, eine gute Platzierung beim ESC zu schaffen und hohe Zuschauerreichweiten zu erzielen. Denn selbst wenn die Quoten noch hervorragend sind, schöpfen sie bei weitem nicht das Potenzial aus, dass der ESC in Deutschland hat und das in den vergangenen Jahren schon erreicht wurde und wieder erreicht werden sollte.

Doch anstatt gegen diese Entwicklung anzuarbeiten, wird der ESC vom NDR und der ARD Stück für Stück weiter in die Nische getrieben. Nicht zuletzt auch die Abschaffung der öffentlichen Vorentscheidung hat entscheidend dafür gesorgt, dass der ESC für mehr und mehr Menschen nur noch in einer Woche, im Prinzip sogar nur noch an einem Tag des Jahres präsent ist. Ganz davon abgesehen, dass auch hier das Ziel verfehlt wurde: Die Abschaffung des Vorentscheides sollte ja zu mehr Erfolg des Auswahlverfahrens führen, da sich so bekanntere Künstler bewerben würden (eine Prämisse, über die man Abhandlungen schreiben könnte).

Die Realität sieht anders aus: Die allermeisten großen Namen, die in der ersten Auswahlrunde ohne deren Wissen der Eurovisions-Jury zur Bewertung vorgelegt werden, sagen im nächsten Schritt ab, wenn sie eine Runde weiterkommen und dann angesprochen werden. Übrig bleiben am Ende all diejenigen, die sich in der Mehrheit auch einem Vorentscheid stellen würden. Gleichzeitig schaffen es die Jurys parallel auf der „Songschiene“ zielsicher all jenes Liedgut auszusortieren, das auch nur ansatzweise internationales Erfolgspotenzial haben könnte (ein Beitrag aus dem deutschen Auswahlprozess hat sich bekanntlich immerhin auf Platz 16 beim diesjährigen ESC platziert, dem Vernehmen nach soll es ein weiterer in die Top 10 geschafft haben).

Letzte Chance: Die Inszenierung. Immerhin hier hat man aus dem vergangenen Jahr gelernt und die Beiträge in der finalen Auswahlrunde für eine Art interne Vorentscheidungsshow auf die Bühne gebracht. Allerdings wurde dabei vergessen, den Acts ausreichend professionelle Hilfestellung bei der Vorbereitung (Inszenierung, Choreografie, Backdrop) zu geben. Stattdessen wurden diese sich selbst überlassen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich am Ende der Act durchgesetzt hat, der von Berufs wegen das beste Verständnis für eine wirkungsvolle Bühneninszenierung mitbringt und – das muss man anerkennen – einfach auch im Vorfeld schon die meiste Arbeit in seinen Beitrag und die Präsentation gesteckt hatte. Anders als alle anderen, die die Songs erst wenige Wochen zuvor in einem Camp geschrieben und/oder ausgewählt hatten. Statt das zur Verfügung stehende Geld für den ESC-Auswahlprozess in teure Beratungs- und Dienstleistungsverträge zu investieren, wäre es für die Inszenierung der potenziellen Beiträge besser angelegt gewesen.

Es gibt letztendlich so viele Baustellen in diesem verkopften intransparenten deutschen Auswahlprozess, dass man ihn wortwörtlich vom Kopf auf die Füße stellen muss. Das bedeutet: Es braucht einen Neustart. Das aktuelle Verfahren, extern organisiert auf Basis wissenschaftlicher Kriterien, scheint zwar in der Schweiz zu funktionieren, in Deutschland aber ganz offensichtlich nicht. Zumal das diesjährige ESC-Ergebnis auch gezeigt hat, dass die zusammenhangslose Auswahl von Songs und Künstlern ins Gestern gehört. Stattdessen haben vor allem Acts mit selbstgeschrieben Liedern – häufig in Landessprache – beim ESC Erfolge eingefahren. Irgendwer muss sich bei den Öffentlich-Rechtlichen des Themas jetzt mit Herzblut annehmen. Vielleicht braucht der NDR hier auch Unterstützung von einem anderen Sender, von der ARD oder gar von einem privaten Wettbewerber.

Aktuellstes Beispiel dafür, dass der ESC vom NDR nicht verstanden wird: Statt das Potenzial des Wettbewerbs zu erkennen und den Neustart nach dem Weggang von Thomas Schreiber für einen motivierten Aufbruch zu nutzen, sind die zukünftigen Zuständigkeiten intern weiterhin vollkommen unklar. Anfragen unsererseits dazu sind weiterhin unbeanwortet. Wie eine heiße Kartoffel wird die größte Musikshow der Welt von Redaktion zu Redaktion und Arbeitsgruppe zu Arbeitsgruppe weitergereicht, ohne dass sich irgendjemand für dieses Projekt zuständig fühlen möchte. Ein Offenbarungseid, der am Ende eigentlich nur dazu führen kann, die Verantwortung für den ESC endlich neu zu organisieren.

Über dieses Thema haben wir auch in unserem aktuellen ESC kompakt LIVE gesprochen.


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307 Comments
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Andi
Andi
2 Jahre zuvor

Diesen Gedanken hatte ich auch schon längere Zeit. Das Künstler gar nicht wussten das man sich bewerben kann und wo. Ein weiterer Baustein in diesem ganzen Fiasko.

Anita
Anita
2 Jahre zuvor
Reply to  Andi

Habe den entsprechenden Artikel mit Interview gefunden. Das ist ja heftig, dass der NDR die Bewerbungsmöglichkeit so gut versteckt…
https://www.watson.de/unterhaltung/interview/301284990-esc-jendrik-sigwart-erklaert-was-fuer-fehler-deutschland-beim-song-contest-macht

Gaby
Gaby
2 Jahre zuvor
Reply to  Anita

Interessantes Interview.
Und ich muss Jendrik zustimmen: Wenn man ein junger, unbekannter Künstler ist, braucht man im Vorfeld Öffentlichkeit. Wie sollen sich denn die Zuschauer mit dem Act sonst identifizieren? Da ist ein öffentliches Casting eigentlich unerläßlich.
Bei bekannten Namen sehe ich ja noch irgendwie ein, dass sie sich keiner öffentlichen VE stellen wollen.

Porsteinn
Mitglied
Porsteinn
2 Jahre zuvor
Reply to  Gaby

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Mischung aus bekannten und unbekannten Acts in unseren Vorentscheidungen immer mehr kaputt gemacht hat als dass es nützlich war… 🙁

Andi
Andi
2 Jahre zuvor

Warum?

Porsteinn
Mitglied
Porsteinn
2 Jahre zuvor
Reply to  Andi

War die Frage an mich gerichtet?

Dann mal hier aus meiner persönlichen Sicht ein paar Beispiele.

2004: Newcomer Max Mutzke deklassiert komplett eine ungeheuer prominent besetzte Vorentscheidung, Folge: Im Folgejahr wieder nur Resterampe. Überdies hätte ich Scooter eine noch bessere Platzierung als Max zugetraut. War ja ein reines Televoting-Jahr.

2008: No Angels mit einem maximal durchschnittlichen Song setzt sich hauchdünn vor Carolin Fortenbacher, die auf der ESC-Bühne womöglich eine größere Präsenz aufgebaut hätte und auf jeden Fall auch nicht viel schlechter hätte abschneiden können.

2013: Cascada setzt sich (u.a.) aufgrund ihrer Bekanntheit vor wesentlich interessantere „Nischenacts“ wie LaBrassBanda und Blitzkids.mvt, die stilistisch nicht so direkt im See des Vorjahresgewinners gefischt haben.

2014: Hier deklassieren wieder Newcomer große Namen. Wenn auch glücklicherweise nicht mit ganz so desaströsen Folgen für das Folgejahr wie in 2004.

2015: Mal abgesehen vom Kümmertgate hat sich Newcomerin Ann-Sophie (wahrscheinlich auch dank zusätzlicher Leinwandpräsenz durch das vorgeschaltete Clubkonzert) vor die weitaus erfolgversprechenderen Alexa Feser (erinnert ein bisschen an Anouk) und Laing (mit einer bereits vorhandenen, perfekten Inszenierung) gesetzt.

Egal ob in die eine Richtung (Newcomer überflügelt Prominenz) oder in die andere Richtung (prominenter Name gewinnt trotz ungeeigneterem Song), aber so richtig glücklich sind wir mit diesen Mischungen selten geworden.

Tamara
Mitglied
Tamara
2 Jahre zuvor

ARRRR! SCHAUT MAL HIER! Man kann dem NDR die Meinung geigen! Ich werde das gleich mal nutzen und würde mich freuen, wenn sich möglichst viele von Euch anschließen! Ich poste den Kommentar auch noch an einigen anderen Stellen (liebes ESC-kompakt-Team, bitte nicht löschen, wir haben hier vielleicht tatsächlich die Möglichkeit, etwas zu machen! Ich würde mich freuen, wenn Ihr das auch nochmal irgendwo prominent rausstellen könntet!)

Here is da link:

https://umfrage-ndr.limequery.com/116283?lang=de-informal

togravus ceterum
Mitglied
2 Jahre zuvor
Reply to  Tamara

Leider wird man nicht gefragt, was man vom Auswahlprozess hält. Wahrscheinlich weiß man beim NDR, warum man das nicht tut …

Porsteinn
Mitglied
Porsteinn
2 Jahre zuvor
Reply to  Tamara

Das ist nicht an den NDR gerichtet, sondern an das Web-Angebot Eurovision.de.

🙁

Tamara
Mitglied
Tamara
2 Jahre zuvor
Reply to  Porsteinn

Dann auch hier nochmal: Das Web-Angebot stammt aber vom NDR und ist wahrscheinlich näher an den Beteiligten dran als alles andere, wo wir im Moment rankommen. Wenn hier einer seine Meinung sagt, wird es überlesen. Wenn das viele tun, dann sieht das möglicherweise anders aus. Deshalb werde ich die Gelegenheit nutzen! Wenn man schon angibt, dass man langjähriger ESC-Fan ist und sich auf allen möglichen Kanälen informiert, dann darf man auch ruhig mal an so einer Stelle rauslassen, wie unzufrieden man mit dem ist, was einem da Jahr für Jahr geboten wird. Auf der letzten Seite gibt es die Möglichkeit, entsprechend was mitzuteilen, ich denke, man sollte sie nutzen.

Danno
Danno
2 Jahre zuvor

Ich finde der Auswahlprozess mit Songwritercamps ist dann gut, wenn auch ein Song dabei ist😚 bekannte Komponisten könnten da durchaus helfen, denn sie wissen was sie tun. Die Wahl Deutschlands war gelinde gesagt ungewöhnlich, geradezu grotesk. Die anderen Lieder hätte ich wirklich gerne mal gehört…

Ein Kompliment von mir an Eurovision.De gibt es aber, ich fand die Aktion mit Freunden online gemeinsam gucken zu können wirklich cool, wir haben das genutzt und bedanken uns bei euch nochmal für dieses Angebot 👍

Saimen
Mitglied
2 Jahre zuvor

Welcher Song aus der Top 10 war denn bei uns im Auswahlprozess? 👀 Aber stimme allem was hier geschrieben wird vollkommen zu. Könnt ihr bitte die Verantwortung für den Auswahlprozess übernehmen? 😂