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Kommentar: Berechtigter Shitstorm. Auch für Blogger gelten journalistische Grundsätze

Manchmal braucht es eine geradezu absurd anmutende Verknüpfung ungünstiger Umstände, um Fehlentwicklungen in einem System zu offenbaren. Dass das auch für den Journalismus gilt, zeigt der Shitstorm, der nach dem Finale der rumänischen Selecția Națională über William Lee Adams und Deban Aderemi (Aufmacherbild) von Wiwibloggs tobt. Schuld daran tragen aber nicht nur die beiden britischen Blogger, sondern auch das rumänische Fernsehen TVR und die weitverbreitete Annahme, der ESC sei eine unpolitische Veranstaltung.

William Lee Adams, der Gründer der wohl größten unabhängigen ESC-Fan-Website Wiwibloggs, und sein Co-Autor Deban Aderemi waren am Sonntagabend zwei der sechs Juroren beim rumänischen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest 2019 in Tel Aviv. Diese Verpflichtung hatte nichts offensichtlich Anrüchiges – bis es zur Abstimmung kam. Obwohl sich Adams im Vorfeld skeptisch über den späteren Siegerbeitrag „On a Sunday“ von Ester Peony geäußert hatte, gaben ihm beide Wiwibloggs-Vertreter die Höchstnote.

Zusammen mit weiteren hohen Wertungen von anderen Juroren reichte die so generierte Punktzahl, um die Favoritin der rumänischen TV-Zuschauer Laura Bretan „zu verhindern“. So wurde es zumindest von einigen Kommentatoren im Netz interpretiert. Denn die 16-jährige – immerhin Siegerin von Românii au talent und Sechste bei America’s Got Talent – hatte sich vor einiger Zeit sehr deutlich für die traditionelle Definition der Ehe aus Mann und Frau eingesetzt. Gerade im sehr gay-freundlichen ESC-Umfeld galt sie damit vielen als „homophob“.

Laura Bretan war beim Finale der Selecția Națională die Favoritin der TV-Zuschauer

Ob aus diesem Grund, einem anderen oder schlicht aus Zufall: Am Ende reichten die Wertungen der sechs Juroren, um das Abstimmungsergebnis des rumänischen TV-Publikums zu pulverisieren. Dass das ging, war auch dem rumänischen Fernsehen geschuldet, das der Wertung jedes einzelnen Juroren ebenso viel Gewicht gab, wie allen TV-Zuschauern zusammen. Dieses zweifelhafte Demokratieverständnis wurde dann noch dadurch getoppt, dass zwei Jurorensitze an Adam und Deban vergeben wurden, also Vertreter eines Mediums.

Das einzige Positive, das man dem rumänischen Fernsehen bei diesem Vorgehen zusprechen kann, ist, dass man offenbar versucht hat, das Juroren-Panel mit ESC-Expertise zu besetzen. Denn diese besitzen die beiden Wiwibloggs-Vertreter. Das haben sie in der Vergangenheit mit ihren Einschätzungen der Erfolgschancen von ESC-Beiträgen immer wieder bewiesen. Dass sie darüber hinaus unterhaltsame Persönlichkeiten sind, die für Spaß, Buntheit und die ESC-Community stehen, macht sie für TV-Anstalten nur noch interessanter. Insofern möchte man die rumänischen Fernsehmacher fast in Schutz nehmen.

Und in der Tat: das Problem haben sich William und Deban im Wesentlichen selbst eingebrockt. Sie haben in der letzten Zeit die journalistischen Grenzen immer weiter überschritten, bis ihnen nun das Ganze auf die Füße gefallen ist. Gerade William, immerhin ein jahrelanger professioneller Journalist, der unter anderem für die Financial Times, die New York Times und CNN gearbeitet hat, hätte es besser wissen müssen. Immer häufiger erlag er der Verlockung, nicht nur als Journalist mit seiner Expertise über den ESC zu berichten, sondern auch selbst eine tragende Rolle im Rahmen des ESC zu übernehmen.

Während das zunächst von den meisten Begleitern und Nutzern von Wiwibloggs durchaus positiv aufgenommen wurde, überspannten er und Deban nun also den Bogen. Als doppelte Juroren in einem nationalen Vorentscheid griffen sie aktiv in den Entscheidungsprozess ein und entmündigten – wenn auch unbeabsichtigt – ein ganzes TV-Volk.

Die Siegerin Ester Peony – die unerwartete Nutznießerin einer unterstellten Absprache von Juroren? 

Es gehört zur Journalisten-Tradition etwa in Deutschland, sich seiner Rolle und Funktion im gesellschaftlichen Prozess bewusst zu sein. Journalisten sind nicht ohne Grund die vierte Macht im Staate. Dazu gehört aber auch, dass sie sich mit den anderen Mächten nicht gemein machen. Vielen Journalisten, denen gern Weltverbesserungstendenzen unterstellt werden, fällt das aus nachvollziehbaren Gründen nicht immer leicht. Schließlich sind gerade Fachjournalisten häufig genauso gute oder gar bessere Experten als manche Politiker.

Dennoch: Journalisten sind keine gewählten Vertreter des Volkes. Ihre Funktion ist es nicht, Entscheidungen zu fällen, sondern über sie zu berichten und sie zu hinterfragen. Das mag im Entertainment-Bereich wie beim ESC, aber auch beim Sport häufig nicht so entscheidend sein. Wenn sich plötzlich aber auch noch ein moralischer Aspekt ergibt, wie jetzt die vermeintliche Homophobie einer 16-Jährigen, dann ist der ESC wieder einmal nicht mehr so unpolitisch, wie er es gern sein will. Dann öffnet das Raum für Spekulationen und dann machen sich Journalisten angreifbar und – ja, auch – unglaubwürdig, wenn sie so wesentlich in diesen Prozess eingreifen.

Der aktuelle Shitstorm hat das Zeug, in etwaige journalistische Lehrpläne für angehende Blogger und Influencer aufgenommen zu werden. Er zeigt, dass auch sie als Meinungsführer eine Verantwortung haben und wie wichtig die journalistischen Grundsätze für alle Akteure gerade in der digitalen und pluralen Welt sind. Wenn diese Lehre aus dem Vorfall hängen bleibt, hatte er wenigstens etwas Gutes. Vielleicht lernen die TV-Verantwortlichen aber auch, dass ihre Verantwortung früher beginnt, als bei der Verpflichtung von Juroren für eine Show. Hat gerade jemand Xavier Naidoo gesagt?


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