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100% Televoting in den Semis: Welche Beiträge wären so in den vergangenen Jahren ins ESC-Finale eingezogen? (Teil1)

Bild: Janerik Henriksson / SCANPIX/ AFP

Nach 13 ESC-Ausgaben, in denen die Halbfinals zu jeweils der Hälfte per Jury- und Televoting entschieden wurden, kommt nächstes Jahr eine überraschende Änderung auf uns zu. Wie die EBU bekannt gegeben hat, werden die ESC-Halbfinalergebnisse ab sofort zu 100% vom Televoting bestimmt. Aber ändern sich die Ergebnisse dadurch wirklich so stark? Wir werfen einen Blick in die Vergangenheit…

Zuvor noch ein paar Punkte, die es bei dieser Statistik zu beachten gibt. Zum einen wird in beiden Halbfinals (genau wie im Finale) auch ein „internationales Voting“ ab 2023 hinzugezogen. Zuschauer:innen aus Ländern, die nicht am ESC teilnehmen, können hierbei – laut EBU per sicherem Identifizierungs- und Bezahlmodus – online abstimmen. Da es ein solches Voting noch nie gab, kann das in jegliche Prognosen natürlich nicht miteinbezogen werden.

Außerdem hat die EBU auf der offiziellen Homepage verkündet, dass eine Liste der Länder, die online mitvoten dürfen, „noch bekannt gegeben“ wird. Das deutet darauf hin, dass wohl doch nicht User aus ALLEN Länder der Welt mitvoten können. Ob also beispielsweise nur Russland oder auch andere Länder vom Online-Voting ausgeschlossen werden, bleibt abzuwarten. Auch eine Begrenzung nur auf EBU-Mitgliedstaaten (insgesamt 73) wäre denkbar.

Zu guter letzt eine Info, die gestern erst nachträglich folgte: die Länderjuries, die im Finale weiterhin zu 50% entscheiden, werden auch in den Halbfinals als Back Up mitabstimmen. Im Falle eines Televoting-Ausfalls könnte so die ein oder andere Jury also doch mitvoten.

Jetzt starten wir aber mit dem eigentlichen Thema: Welche Songs wären seit 2009 bei reinem Televoting in das ESC-Finale eingezogen und welche stattdessen rausgeflogen?

2009

Beim ESC in Moskau stimmte erstmals seit Jahren wieder eine Jury beim ESC mit ab. Hierbei schafften es in den beiden Semis 9 von 10 Beiträgen durch reines Televoting ins Finale. Nur der zehnte Beitrag wurde jeweils von den Jurys ausgewählt. So kam es, dass die Songs aus Finnland („Lose Control“ von Waldo’s Peaople) und Kroatien („Lijepa tena“ von Igor Cukrov feat. Andrea) ins Finale einzogen, während die Televoter im 1. Halbfinale Mazedonien („Nešto što kje ostane“ von Next Time) und im 2. Halbfinale einen Song über Schuhe aus Serbien („Cipela“ von Marko Kon & Milaan) weiter vorne sahen.

2010

Im Lena-Jahr gab es erstmals die 50/50-Gewichtung in den Halbfinals. Und es könnte tatsächlich sein, dass wir es im entfernten Sinne den Jurys zu verdanken haben, dass wir so viele 12 Punkte im Finale von Oslo bekamen. Die Zuscher:innen wollten damals beispielsweise den folkloristischen Beitrag aus Finnland („Työlki ellää“ von Kuunkuiskaajat; sogar auf dem sechsten Platz!) eindeutig im Finale haben, während im Endeffekt – wegen der Jurys – Bosnien und Herzegowina („Thunder and Lightning“ von Vukašin Brajić) in Semifinale 1 weiterkam.

Zudem hätte es ohne Jurys nie das erste und bislang einzige Aus der Schweden („This Is My Life“) in einem ESC-Halbfinale gegeben. Das Televoting sah Anna Bergendahl nämlich, genau wie InCulto („East European Funk“) aus Litauen im Finale. Durch die Jurys kamen aber der israelische Beitrag („Milim“ von Harel Skaat) und Niamh Kavanagh („It’s for You) aus Irland im zweiten Semifinale weiter. Die restlichen Baltikum-Staaten Estland und Lettland hätten dadurch immerhin Litauen im Finale gehabt und eventuell hoch bepunktet. Aber auch Länder aus Skandinavien hätten die ein oder anderen 12 Punkte möglicherweise, statt an Lena, an Schweden und Finnland verteilt. Hätte, hätte, Fahrradkette…

2011

Ähnlich wie bei Anna Bergendahl und Schweden wäre auch die Türkei („Live It Up“ von Yüksek Sadakat) kein einziges Mal durchs Raster gefallen, wenn 2011 bereits alleine das Televoting über die ESC-Finalisten entschieden hätte. Sie hätte es (wenn auch nur ganz knapp) genauso wie „Boom Boom“-Armenien (Emmy) und „Haba Haba“-Norwegen (Stella Mwangi) geschafft. Durch die 50%-Gewichtung der Jurys konnten stattdessen Evelina Sašenko aus Litauen („C’est ma vie“) – wohlbemerkt auf Platz 1 (!) im Juryvoting – sowie die Schweiz („In Love For A While“ von Anna Rossinelli) und Serbien („Čaroban“ von Nina) vom ersten Semifinale ins Finale einziehen.

Auch im zweiten Halbfinale waren sich Zuschauer:innen und Jurys uneinig. Allerdings nur bei einem Beitrag. Das fragwürdige „I love Belarus“ von Anastasiya Vinnikova aus Belarus wäre statt Getter Jaani „Rockefeller Street“) aus Estland weitergekommen, wenn nur das Publikum gewählt hätte.

2012

Und noch eine ESC-Qualifikationsrate würde heute anders aussehen, wenn 2012 nur das Publikum bestimmt hätte. Aber wir fangen vorne an: im ersten Halbfinale von Baku hätten es die Jungs von Sinplus („Unbreakable“) für die Schweiz ins Finale gepackt. Stattdessen kam mit Hilfe der Jury Ungarn („Sound of Our Hearts“ von Compact Disco) ins Finale.

Im zweiten Semifinale gab es mehr Unterschiede. Das Publikum hätte tatsächlich dafür gesorgt, dass es die Niederlande nicht erst ein Jahr später, sondern schon hier mit Joan Franka „You and Me“) nach sieben Jahren wieder ins Finale geschafft hätten. Auch Bulgarien („“Love Unlimited“ von Sofi Marinova) hätte es gepackt. Stattdessen setze die Jury die beiden Beiträge, gemeinsam mit Qualifikant Tooji „Stay“) aus Norwegen, tatsächlich auf die letzten drei (!) Plätze des Semifinals. So kamen im Endeffekt Malta („This Is The Night“ von Kurt Calleja) und Ukraine („Be My Guest) von Gaitana weiter. Richtig gelesen: die Ukraine hätte ohne die 2012er-Jury keine perfekte Qualifikationsrate mehr!

2013

Das Votingsystem 2013 war… anders. Die EBU verlangte zum ersten Mal von allen Juror:innen ein Gesamtranking von allen teilnehmenden Beiträgen anzufertigen. So wurden erstmals sowohl von Jurys als auch dem Televoting alle 26 Songs (im Finale) bewertet und auch in den Halbfinals der Durchschnittsplatz (bei beiden abstimmenden Gruppen) ermittelt. Erst anschließend wurden diese Daten in die üblichen Punkte umgewandelt. Die EBUhat nie alle gesplitteten Ergebnisse per Land veröffentlicht, sondern nur einen Gesamtdurchschnitt für die Platzierung im Tele- bzw. Juryvoting. Auch hier gab es drastische Unterschiede in den Votings.

Moldau („O mio“ von Aliona Moon) und Estland („Et uus saaks alguse“ von Birgit) wären bei reinem Televoting im ersten Halbfinale kleben geblieben. Stattdessen sah das Publikum die rappenden Astronauten aus Montenegro („Igranka“ von Who See ft. Nina Žižić auf Platz 4!) ganz eindeutig im Finale. Auch Kroatien („Mižerja“ von Klapa s mora) hätte es so geschafft. Übrigens hätte die Jury Natália Kelly aus Österreich auf dem 5. Platz ins Finale geschickt.

In Halbfinale 2 gab es auch riesengroße Meinungsverschiedenheiten. Die Zuschauer:innen sahen sowohl Takasa aus der Schweiz („You and Me“) als auch den Beitrag aus Bulgarien („Samo shampioni“ von Elitsa Todorova und Stoyan Yankulov) eindeutig im Finale. Da die Jurys beide Songs auf die letzten Plätze (!) setzte, wurde daraus aber nichts. Stattdessen kamen die unspektakulären Songs aus Armenien („Lonely Planet“ von Dorians) und Georgien („Waterfall“ von Nodi Tatishvili und Sophie Gelovani) weiter.

Es zeichnet sich also bereits hier ab, dass Beiträge, die etwas „ungewöhnlich“ klingen und oft auch nicht rein auf die stimmlichen Fähigkeiten ausgelegt sind, mit reinem Televoting weiter gekommen wären. EBU-Mitglied Sieste Bakker sagte jedoch bereits, dass es „nur minimale Unterschiede“ beim reinem Televoting in den Halbfinals geben werde. Zwar ist es eher unwahrscheinlich, dass viele der oben genannten Beiträge es in die Top 10 des ESC-Finales geschafft hätten; aber mit jährlich drei oder vier Songs, die zwischen 2010 und 2013 den Finaleinzug geschafft hätten, hätten viele ESC-Endrunden deutlich anders ausgesehen. Wie groß die Unterschiede ab 2014 waren und was sich daraus ggf. ableiten lässt, lest Ihr im kommenden zweiten Teil.

Findest Du auch, dass es mit reinem Televoting nur „minimale Unterschiede“ bei den Qualifikanten gegeben hat und geben wird? Welche Beiträge der oben genannten Televoting-Qualifikanten hättest Du gerne im Finale gehabt? Diskutiere gerne mit.


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