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Analyse: Das sind die möglichen Auswirkungen des Votingverfahrens von „Germany 12 Points“

Bei der deutschen Vorentscheidung für den Eurovision Song Contest 2013 hatte LaBrassBanda (Aufmacherbild von einem Gig in Australien 2019) beim Online-Voting der neun Radiostationen jeweils die Höchstwertung 12 Punkte erhalten. Aufgrund der Abstimmungsregeln gewann am Ende jedoch Cascada. Mit dem diesjährigen Votingverfahren hätte sich die bayerische Kapelle vermutlich das ESC-Ticket geholt. Denn das gewährt dem bzw. der Online-Sieger/in einen (kleinen) Vorteil.

Ein wesentlicher Unterschied zu 2013 ist, dass es in diesem Jahr nur zwei stimmberechtigte Gruppen gibt: Das Online-Voting der Radiosender und das Televoting. Dazu vorab: Der NDR hat mit der Entscheidung für die Nutzung der Online-Voting-Plattform Tally eine wichtige Voraussetzung geschaffen, dass eine Manipulation der Online-Abstimmung eingeschränkt wird. Denn 2013 war es weitgehend unproblematisch, zum Beispiel von Oberammergau oder Göttingen aus auch bei Fritz oder Bremen Vier mitzuvoten. Das sollte verhindert werden, damit das Televoting ausreichend Einfluss auf das Ergebnis haben kann.

Gehen wir einmal davon aus, dass einer der sechs Acts von Germany 12 Points 2022 von allen neun Radiojurys 12 Punkte erhält. Wie schwer wird es dann für die anderen, über das Televoting doch noch den Sieg zu holen? Ziemlich schwer. Denn der NDR hat sich dafür entschieden, die Jury-Punkte in das ESC-Schema 12-10-8-7-6-5 Punkte umzurechnen. Das ist bei den Televotingstimmen nicht der Fall, diese werden proportional umgerechnet („Wenn ein Song beispielsweise 20% aller abgegebenen Anrufe und SMS erhält, erhält er 20% der verfügbaren Punkte (20% von 432 Punkten ergibt 86 Punkte).“)

Das führt bei identischen Platzierungen bei allen neun Radio-Online-Jurys dazu, dass Beitrag A, der immer 12 Punkte holt (insgesamt also 108 Punkte) 4,2%-Punkte mehr auf der Uhr hat als Beitrag B, der immer 10 Punkte holt (insgesamt 90 Punkte). Dabei muss Beitrag A gar nicht immer deutlich vor Beitrag B liegen. Im Grunde reicht jeweils eine Online-Stimme pro Radio-Sendegebiet.

Mit diesen 4,2%-Punkten Vorsprung ginge Beitrag A dann ins Televoting. Dort müsste Beitrag B also mind. 4,21%-Punkte mehr Stimmen bzw. Punkte haben, um den Sieg zu holen. Zum Vergleich: Bei sieben Beiträgen bei „Unser Lied für Israel“ hatten die S!sters einen Vorsprung von 2,6%-Punkten.

Anders gesagt: Der Televoting-Sieger müsste einen sehr deutlichen Vorsprung haben, damit das Televoting-Ergebnis ausschlaggebend wird – wenn sich die Radiohörer einig sind. Es wird also viel davon abhängen, wie gut die oben angesprochene Kontrolle der Online-Stimmabgabe funktioniert.

Wenn wir nun einmal das unwahrscheinliche Szenario durchspielen, dass Beitrag A alle 12-Punkte-Wertungen einfährt, die anderen fünf aber sehr dicht beieinander liegen, dann vergrößert sich der Vorsprung von Beitrag A auf den Zweitplatzierten auf 9,5%-Punkte. Da müsste der bei den TV-Zuschauer/innen schon extrem deutlich vorn liegen, um hier noch eine Chance zu haben.

Das ganze muss sich am 4. März nicht als Problem herausstellen, wenn es beim Radio-Online-Voting keinen klaren Sieger nach Punkten gibt. Dann kann natürlich am Ende das TV-Publikum der entscheidende Faktor sein. Hier kann den Veranstaltern in die Hand spielen, dass es in diesem Jahr keinen Act gibt, der überregional so stark verankert ist, dass er/sie in allen Gegenden viele Fans aktivieren kann, um jeweils die 12 Punkte zu holen.

Die Frage ist auch, ob es besser wäre, die Stimmen der TV-Zuschauer/innen nach dem 12-10-8-Punkte-System umzurechnen. Vielleicht. Fairer wäre es vermutlich schon. Der Nachteil wäre hier, dass dann ein Gleichstand von zwei Beiträgen wahrscheinlicher wäre als nach dem jetzt gewählten Verfahren (wobei in den Regeln nichts steht, wie in diesem Fall zu verfahren wäre). Hier würde ich dann aber sagen, dass das Ergebnis auf dem Platz bzw. in diesem Fall auf der Studiobühne zählt.

Ein letzter Gedanke noch: Das Radio-Online-Votings-Schema verzerrt nicht nur bei dem/der Sieger/in, sondern gegebenenfalls auch bei den hinteren Plätzen. Denn selbst ein Beitrag, der bei den Hörer/innen immer am schlechtesten abschneidet, bekommt immer noch 5 Punkte. Das wären also 45 Punkte bzw. 10,4% der Jury-Votes. Das wiederum ist ein schöner Puffer, mit dem ein/e Künstler/in weicher fällt, wenn sich das Televoting mit der prozentualen Umrechnung sehr geizig bei den Punkten zeigen sollte. Ein „Germany, I’m sorry, zero points“ wird es am nächsten Freitag daher für niemanden geben.


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