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Thomas Schreiber über die Reference Group: „Man hat die Eurovision-Familie enttäuscht“

Aktuell bestätigen viele Länder bereits ihre ESC-Teilnehmer für 2021 bzw. geben bekannt, ob der ausgewählte Künstler für 2020 automatisch für den ESC 2021 gesetzt ist oder nicht. Außerdem haben ein paar Sender bereits ihre Programmpläne für den 16. Mai öffentlich gemacht. Wir haben uns gefragt, wie im Hinblick auf diese Themen der aktuelle Stand der Planungen in Deutschland ist und haben deshalb schriftlich beim ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber (Foto oben mit dem deutschen ESC-Vertreter Ben Dolic und dem ARD-Teamchef für den ESC Christian Blenker) angefragt.

ESC kompakt: Ist schon klar, ob Ben Dolic Deutschland beim ESC 2021 vertreten wird?

Thomas Schreiber: Wir konzentrieren uns derzeit darauf, welches Programm wir am 16. Mai – entweder exklusiv für Das Erste oder gemeinsam mit unseren niederländischen Kollegen für die ESC-Welt – anbieten.

Das deutsche ESC-Team beschäftigt sich also zunächst mit der Aufgabe, die Lücke zu füllen, die nach der Absage des ESC 2020 am 16. Mai im Abendprogramm des Ersten entstanden ist. Eine sehr gute Nachricht für uns Fans ist, dass es auf diesem Sendeplatz definitiv ESC-Bezug geben soll und dass auch weiterhin eine Lösung im Raum steht, die in mehreren Ländern ausgestrahlt wird. Letzteres wäre gerade in der aktuellen Corona-Ausnahmesituation ein tolles Zeichen. Buildung Bridges und We Are One!

Welche Faktoren werden bei der Entscheidung eine Rolle spielen und wann wird sie getroffen?

Wenn wir wissen, was am 16. Mai passieren wird und wenn wirklich verlässlich absehbar ist, wann und wo der ESC 2021 stattfinden wird.

Es gibt noch keine Entscheidung, weil ich die mit den Teilnehmerländern nicht abgestimmte Entscheidung der Reference Group, erst mal Songs des Jahrgangs 2020 vom ESC 2021 auszuschließen – obwohl es noch keinen ESC 2021 gibt und es beim derzeitigen Verlauf der Pandemie ja auch nicht mehr als eine Hoffnung ist, dass es 2021 einen ESC geben wird – für schwierig halte. Zuerst einmal hat man damit große Investments in 41 Ländern vernichtet, die Hoffnungen und Träume vieler Künstler zerstört und die Eurovision-Familie enttäuscht. Mit der Entscheidung der Reference Group wurde zuerst einmal den wirtschaftlichen Interessen einzelner Länder für 2021 Rechnung getragen, aber nicht der Mehrheit der Teilnehmerländer.

Diese Einblicke in die Diskussion hinter den Kulissen sind wirklich interessant. Bislang gab es Meldungen, dass Bulgarien und San Marino mit der Entscheidung der Reference Group hadern, Songs aus diesem Jahr nicht für den ESC 2021 zuzulassen. Dass es anscheinend aber weitere Länder (vielleicht sogar eine Mehrheit?) gibt, die mit der Entscheidung ebenfalls unglücklich sind, wurde so bislang nicht kommuniziert.

Man kann fast den Eindruck bekommen, dass hier ein Graben zwischen den ESC-Nationen mit und ohne (öffentliche) Vorentscheidung verläuft. Auf der einen Seite steht eine Gruppe von Ländern, die sicherlich von Schweden angeführt werden dürfte, in denen der Vorentscheid ein Ereignis für sich ist, das im kommenden Jahr auf keinen Fall ausfallen darf. Auf der anderen Seite stehen die Länder, die teilweise große Summen in die Künstlerauswahl, Songproduktion und Vorbereitung gesteckt haben und deren Investitionen nun mehr oder weniger ergebnislos bleiben, weil ein (bestenfalls) guter ESC-Act einem eben nichts nützt, wenn der ESC nicht stattfindet. Gleichzeitig müssen diese Länder nun erneut Geld in die Hand nehmen, um den ESC 2021 vorzubereiten.

Auch der NDR hat mit seiner Entscheidung gegen einen öffentlichen Vorentscheid in diesem Jahr alles auf eine Karte gesetzt. Das musikalische Ergebnis und das internationale Echo waren zunächst äußerst positiv. Unter dem Strich stehen jetzt aber natürlich hohe Kosten für den intensiven Auswahlprozess, ohne dass es eine Vorentscheidungsshow gab und ohne dass der so gefundene Act jemals das Licht der ESC-Bühne erblicken wird. Somit wird „Violent Thing“ von Ben Dolic außerhalb der Bubble weniger wahrgenommen werden und das erzeugt natürlich Rechtfertigungsdruck, wenn das gleiche Budget im nächsten Jahr wieder zur Verfügung stehen soll – vor allem dann, wenn unklar ist, ob der ESC 2021 überhaupt stattfinden kann.

Nun mag es beim NDR nicht am Geld scheitern, aber wir wissen, dass es vielen Sendern in kleineren Ländern anders geht. Da wurden auch schon ESC-Teilnahmen aus finanziellen Gründen abgesagt. Hoffen wir, dass es im kommenden Jahr nicht soweit kommt.

Gibt es schon Neuigkeiten, was die Programmplanung am 16. Mai um 20:15 Uhr in der ARD angeht?

Es gibt am 16. Mai ein Programm ab 20.15 Uhr im Ersten – ob wir 180 Minuten für Deutschland machen oder ob es ab 21.00 Uhr ein europaweites (und Australien-weites) Programm geben wird, sehen wir hoffentlich sehr bald.

Dass noch nicht klar ist, ob es ein europa- und australienweites Programm geben wird, ist vielleicht ein weiterer Hinweis auf die Konflikte hinter den Kulissen. Das hat sich schon dadurch angedeutet, dass nun ein paar Länder vorgeprescht sind und ihr eigenes Programm für den 16. Mai angekündigt haben. Anscheinend hat die Reference Group einige Entscheidungen im Alleingang getroffen, ohne alle Länder mitzunehmen und eine für alle tragbare Lösung herbeizuführen. Ob das in der aktuell schwierigen Lage überhaupt möglich gewesen wäre, bleibt unklar, aber eine richtige Austarierung der Interessen scheint es nicht gegeben zu haben. Eine leichte Aufgabe war das aber sicherlich nicht, auch unter den Fans war und ist hochumstritten, ob Songs aus dem aktuellen Jahr 2021 nochmals zugelassen werden sollten.

Vorsitzender der Reference Group ist seit 2009 ein Deutscher: Dr. Frank-Dieter Freiling vom ZDF. Er ist der unabhängige (weil nicht von einer der teilnehmenden Rundfunkanstalten) Vorsitzende des ESC-Exekutivkomitees, das außerdem aus drei gewählten drei Heads of Delegation, zwei Executive Producern der letzten Jahregänge, zwei unabhängigen Experten sowie dem EBU-Supervisor, also aktuell Jon Ola Sand, besteht. Alle aktuellen Mitglieder findet Ihr hier.

Die internen Vorgänge können wir als Außenstehende nur schwierig bewerten. Aber schauen wir nach vorne: Wünschenswert wäre, dass so schnell wie möglich eine Entscheidung getroffen wird zum einen darüber, was am 16. Mai passieren soll. Zum anderen sollte natürlich auch so schnell wie möglich, d.h. sobald es die Corona-Situation eben zulässt, festgelegt werden, ob der ESC 2021 in Rotterdam stattfindet und wenn ja, wann. Wenn die EBU diese Fakten schafft, versetzt sie im Gegenzug die nationalen Rundfunkanstalten in die Situation, so schnell wie möglich reinen Tisch zu machen, ob an den für 2020 ausgewählten Künstlern festgehalten wird oder eben nicht. Das wäre fair den Künstlern gegenüber und würde auch bei den Fans für Klarheit sorgen.


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