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Deutschlands Song für Rotterdam: Das Schweigen des NDR – und was es bedeuten kann

Spätestens seit Paul Watzlawicks Axiomen ist es eine Binse: Man kann nicht nicht kommunizieren. Ob gewollt oder nicht – der Sender schickt immer eine Botschaft an den Empfänger, der diese dann interpretieren darf/kann/muss. Wenn also der NDR in Sachen ESC schweigt – auch auf mehrfache Anfrage u.a. von diesem Blog -, dann drückt er damit doch etwas aus. Insofern ist es durchaus legitim, an dieser Stelle die Sichtweise des Empfängers einzunehmen und seine Interpretation des Schweigens zu ventilieren. 

Der Status ist: Der deutsche ESC-See ruht still – zumindest äußerlich. Nach der Ankündigung, dass Christoph Pellander nicht mehr der deutsche Head of Delegation sein wird und auch Iris Bents nach vielen Jahren nicht mehr die Kommunikation verantwortet, gab es keine offensive PR-Arbeit des NDR mehr. Selbst der Aufruf nach Songeinreichungen war so gut versteckt, dass ihn die meisten Musiker verpasst haben dürften. 

Auch auf die Einladung zum ECG-Fanclubtreffen in Köln hin hat der NDR bisher nicht reagiert. In den letzten Jahren war er fast immer vor Ort. Im November 2018 standen sogar Thomas Schreiber und Christoph Pellander auf der Bühne (Foto unten bei der Probe des ESC-Finales in Tel Aviv) und belegten, wie sie mit strategischer Planung und messerscharfer Exekution einen 4. Platz in Lissabon errungen und damit alle Kritiker (allen voran die Bild-Zeitung aber auch unkende Fanforen) eines Besseren belehrt haben. 

Es bedarf nicht besonders viel Küchentischpsychologie, um die aktuelle Denkweise des NDR zu interpretieren: Die Fans (und die Presse) haben den diesjährigen legitim gewählten deutschen Beitrag für Tel Aviv runtergeschrieben. So konnte (auch international) kein Hype entstehen, was letztlich zum schlechten Abschneiden der S!sters beim ESC führte. Grund allen Übels: Hätte man die Presse nicht über die Vorentscheid-Proben berichten lassen, hätte sich kein Aly-Ryan-Hype eingestellt. 

Was lernt man als NDR daraus? Einfach keine Öffentlichkeit im Vorfeld mehr einbinden. Das hätte noch einen weiteren Vorteil: wenn es dann mit einem guten Abschneiden in Rotterdam klappt, kann man sagen: Schaut her, wir wissen eben doch, wie es geht! Oder um es mit Andrea Nahles zusammenzufassen: Bätschi!

Nimmt man diese Vermutungen als handlungsleitend an, würde es nicht verwundern, wenn wir noch lange auf Informationen zum deutschen Vorentscheid 2020 warten können. Dafür spricht auch, dass der NDR zwar wieder eine Eurovisions-Jury eingeführt hat. Offenbar sind aber die Strafen für das Ausplaudern von Informationen mittlerweile so drakonisch, dass sich wirklich niemand traut, etwas nach außen dringen zu lassen. Auch einen bzw. eine neue Head of Delegation ist noch nicht bekanntgegeben, obwohl vermutlich schon eine Entscheidung gefallen ist. Alles bleibt geheim.

Dazu muss man sagen: Das ist das gute Recht des NDR. De facto kann er auch einfach am 9. März einen Titel und Interpreten für Rotterdam anmelden. Bis dahin kann alles hinter verschlossenen Türen stattfinden. 

Ironischerweise hätte der NDR gerade mit dem Schweizer Fernsehen ein gutes Vorbild dafür. So hatten sich die Eidgenossen zwar zunächst an Deutschland orientiert und Songwriting Camps und interne Experten-Jurys etabliert. Nach dennoch ausbleibendem ESC-Erfolg hatte man aber im letzten Jahr kurzerhand den öffentlichen Vorentscheid gestrichen. Vielmehr wurde mit Luca Hänni der intern ermittelte, erfolgversprechendste Künstler mit dem erfolgversprechendsten Song verpflichtet und in einem hochprofessionellen Verfahren ein Gesamtpaket mit Video, Outfit und Auftrittschoreografie entwickelt. Der Lohn: Platz 4 beim ESC in Tel Aviv (Foto unten).

Foto: Thomas Hanses

Aus der langjährigen ESC-Erfahrung mit Thomas Schreiber ist bekannt, dass er den Erfolg will und durchaus offen für Prozessänderungen ist, so sie ihn zum Ziel bringen. Insofern wäre es nicht überraschend, wenn Deutschland in diesem Jahr den Schweizer Weg beschreiten würde. Das würde gleich zwei Probleme lösen: Das ARD-Vorentscheid-Publikum, das so überhaupt nicht mit dem internationalen ESC-Publikum übereinstimmt, müsste nicht mitvoten und die Fans würde nicht ständig reinreden, ihre eigenen Favoriten hypen und damit womöglich den ESC-Erfolg des tatsächlichen deutschen Beitrags gefährden.

Der Nachteil dieses Verfahrens: Der NDR setzt damit alles auf eine Karte. Das kann aufgehen wie für Luca Hänni. Es kann aber auch enden wie bei Srbuk für Armenien in diesem Jahr oder bei anderen Direktnominierungen. Andererseits: schlimmer als ein letzter Platz kann es für den NDR nicht werden. Davon gab es in den letzten Jahren ja einige – und die Verantwortlichen sind immer noch da. 

Sollte das alles so kommen, wäre dem NDR der Mut zu wünschen, dann bitte die Schweiz auch richtig zu kopieren. Konkret heißt das: richtige Arbeit mit dem Künstler und die richtige Entwicklung eines Auftritts. In den letzten Jahren fielen dabei immer dieselben – weil von früheren Arbeiten hochdekorierten – Namen wie Ladislaus Kiraly. Es wäre an der Zeit, hier auch mal andere kreative Köpfe zum Zug kommen zu lassen.

Nun ist der NDR ja durchaus für Überraschungen gut und stellt sich vielleicht doch einem nationalen Vorentscheid – oder einem wie auch immer gearteten Zwischending. Womöglich schaut er dann mal nach Schweden, wie man dort beim Televoting die Zuschauerschaft unterteilt und gewichtet hat, damit diese dem ESC-Publikum ähnlicher wird.

Wie und was immer es wird: So lange am Ende eine Top-Platzierung herausspringt, wäre das Schweigen des NDR womöglich Silber oder ganz und gar Gold gewesen.


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