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Presseschau: Deutschland nach dem großen Finale des ESC 2021

Bild: Instagram @mynameis_jendrik

„Germany, I’m sorry, zero points.“ Bar Rafaelis legendäres Zitat aus Tel Aviv entwickelt sich nicht nur zum Televoting-Trauma für die deutsche Delegation, es zieht sich auch wie ein roter Faden durch die Pressereaktionen in Deutschland nach dem vorletzten Platz für Jendriks „I don’t feel hate“ (Bild von Jendrik bei Insta) beim Eurovision Song Contest 2021 in Rotterdam.

Aufhänger der aktuellen ESC-Berichterstattung ist logischerweise der ESC-Erfolg Italiens („harter Aggressionsabbau, lauter und schriller Rock liegen im zweien Corona-Jahr in Europa ganz vorne“ sagt z.B. die Berliner Morgenpost), häufig in Kombination mit den Kokainvorwürfen an Måneskins Leadsänger Damiano David. Aber schon Millisekunden danach schwenkt die publizistische Aufmerksamkeit zu Deutschlands erneutem „ESC-Debakel“ (stern.de), mal mehr, mal weniger konstruktiv.

Jendrik grundsätzlich durchaus zugewandt, zeigt sich z.B. Peter-Philipp Schmitt in der FAZ:

„Er war authentisch, er präsentierte seine aufwendige Choreografie nahezu fehlerlos, er war lustig. Ja, aber: Es war von allem zu viel. Man verstand es nicht, nicht die Frau in dem komischen Kostüm (…), nicht die knallbunten Wände, die im Hintergrund explodierten, und schon gar nicht Jendrik selbst, der teilweise so gehetzt sang, dass nicht einmal klar war, in welcher Sprache der Text war. (…) Jendrik und mit ihm der NDR vermasselten den Auftritt gehörig.“

„Schuld sind immer die Anderen.“ nennt Peter-Philipp Schmitt seine Analyse, denn er kommt zum folgenden Fazit:

„Dass vieles nicht rund lief beim deutschen Auftritt, kann man ruhig zugeben. Doch leider ist auch das typisch Deutsch – die Fehler nicht bei sich selbst zu suchen. ‚Das war ein perfekter Auftritt, eine in sich schlüssige Inszenierung mit einer wichtigen Botschaft‘, teilte der NDR am Sonntagmorgen mit. ‚Dass Musik polarisiert und Geschmackssache ist, wussten wir auch.‘ Klar ist Musik Geschmackssache. Aber es ist ja nicht so, dass sich 24 Rocknummern vor Jendrik platziert hätten, sondern ein so breit gefächertes Spektrum an verschiedenen Musikstilen, wie selten zuvor bei einem ESC.

Die Rolle des NDR greift Elmar Kraushaar in seinem ESC-Text „Völlige Realitätsverweigerung“ in der Berliner Zeitung auf.

„Wie hat es der NDR wieder einmal geschafft, einen Verlierer für den Wettbewerb auszuwählen? Wie schon seit ein paar Jahren ist der Weg zur deutschen Vorauswahl nicht ganz nachvollziehbar. Der öffentliche Vorentscheid wurde abgeschafft, dafür sind es eine 100-köpfige Eurovisions-Jury und eine 20-köpfige Expertenjury, die aus angeblich mehreren hundert Bewerbern einen auswählen. Dazu gibt es noch die sogenannten Songwriting-Camps, wo mit international renommierten Komponisten und Textern erfolgversprechende Titel erarbeitet werden. Wer aber sich genau hinter diesen Schritten zur Auswahl verbirgt, erfährt man nicht. Transparenz ist nicht die Stärke des NDR.“

Auch die Glorifizierung von Jendrik in der offiziellen Presseinformation des NDR nach dem ESC beeindruckt Elmar Kraushaar nicht.

„Man kann es getrost als die Arroganz einer öffentlich-rechtlichen Anstalt benennen, jedes Jahr völlig konsequenzlos einen neuen Verlierer zu produzieren. Zurück bleiben die Künstler, die mit viel Vorschusslorbeeren in die Verkaufsmaschinerie geschoben werden, um sie dann bei Misserfolg prompt fallen zu lassen, in die Namenslosigkeit, ins Vergessen. Oder wer erinnert sich noch an Ann Sophie (2015), Jamie-Lee (2016), Levina (2017) oder die Sisters (2019)? Jendrik wird wohl der Nächste sein auf dieser Liste.“

Marlene Knobloch in der Süddeutschen Zeitung kommt daran anknüpfend in ihrer Analyse „Lockdown für Lametta“ zu dem Schluss, dass der deutsche Song in anstrengenden Ausnahmezeiten wohl nicht den Zeitgeist trifft:

„Nach über einem Jahr Pandemie, in dem (…) Abitur-Feiern digital stattfinden und 18. Geburtstage den Craziness-Faktor einer ZDF-Fernsehgarten-Übertragung haben, trifft Jendriks Schulter tätschelnde Botschaft ‚I don’t feel hate‘ vielleicht nicht ganz den Ton der Zeit. Im Gegensatz zum Hard-Rock aus Italien.

Der Auftritt von Deutschlands Kandidat Jendrik war keine Katastrophe. Der 26-jährige Musicaldarsteller strahlte mit professionellem Bühnengrinsen, warf seine Glitzer-Ukulele in die Luft (jedes Steinchen selbst beklebt), und tanzte als personifizierte Sympathie neben einer menschengroßen, zum Mittelfinger gestreckten Hand, die sich schließlich zum Peace-Zeichen löste. Aber niemand, nicht einmal die ESC-Verantwortlichen beim NDR, die für die Auswahl des deutschen Kandidaten zuständig waren, konnten ernsthaft glauben, dass man mit dem penetranten Gestichel auf den Gute-Laune-Nerv einen ersten Platz belegen würde. Dass Jendrik  (…) so tief rasseln würde, könnte mit der wenig hippiesken Weltstimmung zusammenhängen.“

Wie Marlene Knobloch in ihem SZ-Stück („eine Wende in der Pandemie (…) – der manchmal plötzlich anschwellende Applaus und spontane Jubel lief wie Honig die sterile Tonbandklatscher gewohnten Ohrmuscheln runter“) freut sich auch Alexander Krei im Branchenchannel DWDL.de, mit der ABBAesquen Headline „Thank you for the music“, dass der ESC ein Schritt zurück in die abstandsfreie Realität ist:

„Schon hat man sich daran gewöhnt, dass der Applaus bei Fernsehshows vom Band kommt, da zeigte uns der Eurovision Song Contest am Samstagabend, wie schön es doch sein kann, wenn wieder lautstark richtig geklatscht und leidenschaftlich gejubelt wird; wenn Menschen zusammen singen, feiern und gemeinsam Fahnen schwenken. Alleine schon deshalb hat sich dieser ESC in Rotterdam gelohnt.“

Wenn es dann mit dem deutschen Beitrag beim ESC nicht läuft, dann folgt schnell der Ruf nach Stefan Raab. Jens Meier von stern.de begründet das in seinem Text „ESC Debakel: Ein Anruf bei Stefan Raab ist überfällig“ wie folgt:

„Jendrik Sigwarts vorletzter Platz reiht sich ein in eine Reihe von niederschmetternden Ergebnissen der vergangenen Jahre. Einzig Michael Schulte, der in Lissabon Vierter wurde, ragt positiv heraus. Im Auswahlverfahren des NDR, das in den vergangenen Jahren mehrfach überarbeitet wurde, kann er aber bestenfalls als Glücksgriff gelten.

(…) Deutschland braucht einen Neuanfang beim ESC. (…) ‚Die Zuschauer haben das so entschieden‘ oder ‚die interne Jury hat das so entschieden‘ – das waren die Sätze, die bislang vom NDR zu den miserablen Ergebnissen zu hören waren. Doch wer nur die Wahl aus semiguten Songs hat, kann eben nur daraus auswählen. „Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß“, sagte einst Andi Brehme. Es braucht wie beim Fußball einen Verantwortlichen mit Kontakten in die Musikbranche, der gute Interpreten verpflichtet und im Zweifel seinen Kopf für ein miserables Abschneiden hinhält. Stefan Raab wäre so einer.“

Auch Imre Grimm fordert in den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland einen Neuanfang:

„Die deutsche ESC-Bilanz der letzten Jahre fällt inzwischen so düster aus, dass man diese neue Schmach nicht einfach wird weglächeln können. Bei den letzten sechs Song Contests war Deutschland zweimal Letzter und dreimal Vorletzter (und einmal Vierter: 2018 mit Michael Schulte). So bitter das ist: Das deutsche ESC-Team hat den Anschluss an den zeitgenössischen europäischen Pop verloren. Wie ein Fremdkörper wirkte Sigwarts schrillbunter Beitrag in Rotterdam – zwischen lauter Künstlern, die das, was sie taten, eben nicht ironisch und lustig meinten. Die dem Publikum Tiefe und Komplexität zumuteten – und dafür auch belohnt wurden, etwa Frankreich oder die Schweiz. (…) Das Team des NDR wird sich neu sortieren müssen – und dringend neue Wege suchen, damit die deutschen Bemühungen beim größten Musikspektakel der Welt nicht endgültig zur Lachnummer werden.“

Ein ganz spezfischer Fall ist dann noch einmal BILD, auf die wir am Ende kurz eingehen wollen. BILD macht auf mit dem (inzwischen berüchtigten) Zitat „Ich wusste ja, dass mein Lied nicht mein bestes ist“ und dreht das Stück dann in die Richtung, dass es Jendrik mehr auf den Spaß und auf neue Insta-Follower ankommen würde als darauf, eine gute Platzierung zu erzielen. Das Aufmacherzitat und die daran anknüpfenden unreflektierten Ich-will-Spaß-Botschaften von Jendrik kommentiert BILD wie folgt:

Eine Aussage, die man erst mal sacken lassen muss. Denn Jendrik offenbart damit, das es ihm von Anfang an egal gewesen ist, welche Platzierung er beim ESC erreicht und ihm nur die Teilnahme wichtig war.“

Man gewinnt den Eindruck, als habe Autor Mark Pittelkau schon vor dem dem Pressetermin zu fortgeschrittener Stunde eine gewisse Idee für sein Stück gehabt. Mit den Worten „Du bist, glaube ich, der fröhlichste Verlierer, den wir je hatten.“ wird der überdrehte Jendrik zu weiteren ich-bezogenen Elogen ermuntert, die Benny bekanntlich hier dokumentiert hat. Klar, Jendrik ist ein erwachsener Mann, aber an dieser Stelle hätte man sich gewünscht, dass die deutsche Delegation ihn besser gebrieft und vorbereitet hätte und Alex Wolfslast und/oder das Presseteam bei seinen ausufernden Presse-Statements sanft-konstruktiv aber elegant-bestimmt eingeschritten wären.


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