„Der NDR hat die Lust vor 30 Jahren abgegeben“ – Olli Schulz und Jan Böhmermann mit deutlicher Kritik an Urban, Schöneberger und Co.

Bild: Instagram @therealjanboehmermann

2022 ist mal wieder alles beim Alten im ESC-Land Deutschland. Obwohl in den vergangenen Jahren das komplette ARD-ESC-Team einmal ausgetauscht wurde – Alexandra Wolfslast ist seit 2020 Head of Delegation, Andreas Gerling erst seit diesem Jahr ARD-Teamchef für den ESC – hält die Ergebnis-Flaute weiter an. Fast noch erschreckender ist, dass die vom NDR verantworteten Shows – von der deutschen Vorentscheidung bis hin zum Countdown und zur Aftershow – weiterhin wenig Innovationskraft versprühen: Moderation, Kommentar, Regie, Stargäste – alles wie immer. Es ist wohl nicht sonderlich gewagt, wenn man behauptet, dass das eine mit dem anderen zusammenhängen könnte. Entsprechend fiel auch das Presseecho nach dem ESC-Finale in diesem Jahr wieder verheerend aus.

Bestens auf den Punkt bringen das alles nochmal Jan Böhmermann und Olli Schulz in der Folge „BOOMERCRINGE 20“ ihres Podcasts „Fest & Flauschig“ vom Dienstag. In fünf Minuten fassen die beiden Profis das zusammen, wofür wir Blogger gerne auch mal zwei Stunden brauchen. Die Kritik wird dadurch besonders glaubwürdig, dass sich Jan und Olli zwischendurch immer wieder sehr wertschätzend gegenüber dem Eurovision Song Contest an sich äußern (was man nicht von jedem Kommentator in den großen Medien behaupten kann).

Die Folge könnt Ihr in ihrer Gesamtheit hier auf Spotify anhören; der Abschnitt über den ESC startet etwa bei Minute 12:00. Wir dokumentieren im Folgenden die wichtigsten und markantesten Passagen. Der transkribierte Text ist nicht vollständig und teilweise wegen des thematischen Zusammenhangs umsortiert.

Zunächst greifen die beiden ein Thema auf, das auch hier bei uns in den Kommentaren sowie in den sozialen Medien während der ESC-Woche intensiv diskutiert wurde: Die Kommentare von Peter Urban. Was früher noch witzig und kultig gewesen sein mag, ist heute leider vollkommen aus der Zeit gefallen. Das gilt nicht nur für die vorgeschrieben Kommentare selbst, auch die handwerkliche Ausführung selbst lässt immer mehr zu wünschen übrig.

Olli Schulz:

„MIKA hat moderiert. Was für ein unglaublicher Typ. Der eine unglaubliche Show… […] Wir haben immer noch Peter Urban, der das mit 74 Jahren so träge moderiert. […] Wenn wir mal die Chance haben wollen, diverse Personen oder jemanden, der queer ist, ins Fernsehen zu holen, dann ist das zum Beispiel eine Veranstaltung, die unbedingt jemand, der vom Fach ist moderieren sollte. Und nichts gegen Peter Urban, aber das ist so eine diverse, schöne, bunte, coole Show mit allem drum und dran. Viele Leute aus vielen Communitys, die das cool finden, würden sich freuen und alle andere auch. Das wäre ein perfektes Bindemittel, jemanden einzusetzen, der vielleicht ein bisschen mehr das Ganze mit Elan, Leidenschaft für diese gesamte Show moderieren würde. Und das würde ich ganz cool finden, denn da ist wirklich perfekt dafür gemacht. Da könnte man mal anfangen, finde ich. Peter Urban macht das seit Mitte der 90er-Jahre und das ist ein lieber, netter Kerl, den kenne ich schon aus meiner Kindheit von NDR 2, aber das ist so rotztrocken moderiert, während MIKA da die derbe Show macht und das auch alles ne geile Show ist. Das muss jemand anders machen.“

Jan Böhmermann:

„Ich muss auch sagen, als dieser eine komische Trick da war, der eine Moderator vor dem Green Screen und Peter Urban nichts anderes eingefallen ist als einfach: ‚Da sieht man jetzt einen schwebenden Kopf, aber erschrecken Sie sich nicht, das ist mit dem Green Screen gemacht, der hat einen grünen Anzug an, das ist alles gar nicht echt.‘ Und Du denkst: ‚Ey sag mal, ganz ehrlich, was willst Du eigentlich?'“

Oli Schulz:

„Der entmystifiziert die Show […]“

Etwas später kommen die beiden dann nochmal auf das Thema zurück.

Olli Schulz:

„Wir leben im öffentlich-rechtlichen […] oft in so veralteten Strukturen und Peter Urban, der soll auch im Fernsehen auftreten, aber dann soll er die Vorberichterstattung machen, aber nicht den Kommentar mehr. […] Eigentlich soll er’s nicht mehr.“

Jan Böhmermann:

„Ich frag‘ mich beim NDR, das wird wahrscheinlich gar nicht gehen. Wenn Du zu Peter Urban gehst und sagst ‚Peter, das war’s jetzt. Ehrlich gesagt, Du bist uninspiriert. Du hast die besten Jahre hinter Dir. Es reicht irgendwann.‘ Dann kommt wahrscheinlich der Betriebsrat und sagt ‚Nee nee, Peter macht das aber weiter.‘ Aber warum? Der macht das doch immer, aber offensichtlich nicht gerechtfertigt durch Qualität. Wenn Du Dir die BBC anschaust, dann hast Du da ’nen geilen, süffisanten, sarkastischen Kommentar, der das ganze noch auf ein anderes Level hebt. Wenigstens mal den Blick erweitern, was es eigentlich bedeutet für Minderheiten, die Queer-Community.“

Kurze Anmerkung dazu: Peter Urban ist schon länger nicht mehr fest beim NDR angestellt, Probleme mit dem „Betriebsrat“ dürfte es deshalb eher nicht geben, die Passage dürfte aber wohl ohnehin eher sinnbildlich als wörtlich gemeint gewesen sein.

Olli Schulz:

„Das wäre wirklich die Chance, da mal jemanden einzusetzen und dann natürlich auch zu erweitern. Aber diese Sendung ist so prädestiniert dafür, dass das nicht so rotztrocken kommentiert wird.“

Bereits vorher arbeiten sich die beiden an der deutschen Inszenierung von Marvin Dietmann ab, die in diesem Jahr wieder ganz schön, aber relativ unauffällig war – übrigens mit Ansage (nachzulesen hier und nachzuhören hier).

Olli Schulz:

„Vor allem diese unglaubliche Bühne, die wirklich bei jedem Künstler in einem anderen Licht war.“

Jan Böhmermann:

„Unfassbar! Vor allem die Bühnentechnik, das habe ich auch gedacht. Wie bescheuert von Malik Harris. Also bestimmt ein lieber, netter Kerl und so. […]“

Olli Schulz:

„Aber dann alles alleine mit der Loop-Station…“

Jan Böhmermann:

„Das war ja nicht mal alles alleine. Beim Eurovision Song Contest, da musst Du ne Perlengardine vorm Gesicht haben, da musst Du auf ’ner Treppe stehen, da musst Du lange Fingernägel haben, […]“

Olli Schulz:

„Du musst einfach ’ne geile Show machen!“

Jan Böhmermann:

„Ich versteh‘ es nicht! Und Du musst ja nicht mal ’nen geilen Song abliefern. Mach‘ ne exaltierte Performance und wenn Dein Song scheiße ist, gib auf der Bühne Gas, meine Güte. Dass das keiner schnallt!

In diesem Zusammenhang müssen die beiden dann natürlich auch auf den deutschen Auswahlprozess kommen sowie auf die Expertise der Radio-Jury (Reminder: „Die Entscheidung haben wir nach bestem Wissen und Gewissen und sorgfältiger Abwägung getroffen und uns auf Songs verständigt, denen wir allen eine große Chance einräumen, in Turin gut abzuschneiden. Wissen wir das – nein, wissen wir nicht. Glauben wir das – klar, sonst hätten wir uns nicht so entschieden.“)

Olli Schulz:

„Der Song war auch schön, aber es war halt NDR-2-Radiomucke. Und dann sagen die ‚Das würde auch bei uns auf NDR 2 laufen, dann sollten wir…‘

Jan Böhmermann:

„…uns vielleicht mal Gedanken zu machen, dass das ein Grund ist, dass das nicht zum ESC darf.“

Olli Schulz:

„Warum hat man Electric Callboy… […] Ey, hast Du das gesehen von denen? Die reißen die Bühne ab. Und das war nicht radiotauglich.“

Jan Böhmermann:

„Dieser komische Konsensgedanke, dass man irgendeinen Song finden muss, der irgendwie ist. Macht doch einen einen Song, wo der Funke überspringt. Dann musst Du den nicht unbedingt geil finden, das muss ja nicht Deine Musik sein. Also Electric Callboy, muss ich ehrlich sagen, ist auch nicht so meine Band. […] Die hätten ne gute Show gemacht, die irgendwie spektakulär ist und darauf kommt es am Ende dann an.“

Die stärkste Passage dieses Gesprächs liefert dann Jan Böhmermann, der nochmal in wenigen Sätzen auf den Punkt bringt, woran deutsche ESC-Fans Jahr um Jahr verzweifeln.

Jan Böhmermann:

„Es bricht einem irgendwie echt das Herz. Also wenn Du ’ne Liebe zur Musik hast, dann denkst Du, warum machen das ausgerechnet die Leute, die wirklich absolut keinen Bezug offensichtlich nicht mal zu ihrer eigenen Veranstaltung haben? Der NDR hat die Verantwortung, aber offensichtlich hat er die Lust vor 30 Jahren schon abgegeben. Aber da sitzen immer noch Leute hierarchisch in irgendwelchen Sesseln ‚Wir müssen das nächstes Jahr wieder machen“ und keiner sagt mal ‚Kann man das vielleicht mal irgendwie Leute machen lassen, die echte Liebe zum ESC haben?‘ Und ehrlich gesagt auch Barbara Schöneberger, liebe Grüße und sowas, aber da die siebte Show runterreißen zwischen der OBI-Eröffnung und der Moderation von „Verstehen Sie Spaß?“. Diese Typen, die dann an diesen kleinen Bistro-Tischchen gesessen haben mit halbherzigem Applaus – das sollte die Warm-Up-Show sein. Warum sitzt da fucking Johnny Logan und Thomas Hermanns? Ist das wirklich der einzige Mensch in Deutschland, der einem einfällt, wenn man ein queeres Spektakel hat, weil das war er ehrlich gesagt Ende der 90er auch schon.“

Olli Schulz:

„Man könnte auf alle Fälle, das ist unsere Message, man könnte da so viel draus bauen, auch für die deutsche Fernsehkultur. Ich hab‘ mich bestens unterhalten gefühlt bei der Show. Ich fand das gut. Es gibt auch Momente, wo mich das alles nicht interessiert, aber diese Sendung hat mich voll mitgenommen.“

Ja und Amen! Man könnte so viel aus dem ESC machen, auch und gerade im großen TV-Markt Deutschland. Im letzten Jahr wurde das Auswahlverfahren vom NDR „selbstkritisch auf den Prüfstand“ gestellt. In diesem Jahr wird das schlechte Ergebnis „sehr ernst“ genommen und „das Auswahlverfahren für den ESC 2023 wird anders aussehen als das für den diesjährigen ESC“. Hoffentlich dann nicht nur das Auswahlverfahren, sondern auch wirklich mal das komplette Programm rund um den ESC.


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154 Comments
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Christliches
Christliches
1 Jahr zuvor

Könnte ESC Kompakt nicht bitte einen offenen Brief, den wir unterschreiben, starten mit der Aufforderung, dass der NDR den Job endlich abgibt. Das ist die einzig machbare Lösung. Der NDR kann sich nicht neu erfinden.

Porsteinn
Mitglied
Porsteinn
1 Jahr zuvor
Reply to  Christliches

Die Frage ist: Kann sich ein anderer öffentlich-rechtlicher Rundfunk im ESC-Sinne neu erfinden?

JuliaforESC
JuliaforESC
1 Jahr zuvor

Zum Thema Urban: es ist erschreckend, wie er von Jahr zu Jahr schlechter wird (falsche Namen, Unlust, kaum noch Übersetzung). Ich kann mir den ESC ohne ihn zwar nicht vorstellen, aber warum setzt man ihm n.J. nicht jemand Junges, Frisches, (ESC Fan mit mind. 10 Jahren ESC Erfahrung) zur Seite? Denn dann, wenn Peter in die wohlverdiente Rente geht, ist der Abschied nicht ganz so schmerzhaft.

Nils
Nils
1 Jahr zuvor
Reply to  JuliaforESC

Dass er weniger übersetzt, liegt aber vermutlich auch einfach daran, dass man 2022 schon davon ausgehen kann, dass nahezu jeder gut genug Englisch spricht, um das auch ohne Urban zu verstehen.

Ansonsten gebe ich dir Recht. Fand diesen Versuch, ihm Michael Schulte an die Seite zu stellen, bei der Show aus der Elphi relativ vielversprechend.

Schlippschlapp71
Schlippschlapp71
1 Jahr zuvor
Reply to  Nils

Eigentlich brauche ich das ganze Gelabere von Seiten der Moderatoren gar nicht, das war mir dieses Jahr viel zu viel. Da ist mir dann ein jeweiliger Kommentator dann schon lieber – aber Urban muß es nicht mehr sein

Nils
Nils
1 Jahr zuvor
Reply to  Nils

Ja, es muss auf jeden Fall etwas gegen diese Inflation an Umbaupausen getan werden, die zerstören wirklich die ganze Show. Ich verstehe aber auch immer noch nicht so recht, warum es dieses Jahr gleich so viele davon gab. Im Zweifel nähme ich auch lieber 45-sekündige Postcards in Kauf, als das permanente, meist ja eh dümmliche Geplänkel der Moderatoren.

Ben70
Ben70
1 Jahr zuvor

Nichts gegen Schöneberger und Urban, letzterer hat seine Sache viele Jahre gut gemacht – aber es ist wirklich mal Zeit für etwas anderen, sehr anderes. auch die ewigen Collagen mit dem schrillsten, bunten & Co aus den letzten Jahren interessiert mich wirklich nicht mehr.

Die Show, also der ESC selber ist ja stark durchformatiert, was Ablauf und Bühne betrifft und hat in den letzen 20 Jahren kaum Raum für Änderungen geboten. Ehrlich gesagt konnte ich dieses Jahr auch nicht erkennen, dass die Bühne nicht von Florian Wieder war. Nur die kaputte Sonne war ein italienisches Markenzeichen ;-). Die Moderation ist das einige, was ein bisschen Spielraum gibt und die fand ich in diesem Jahr herrlich italienisch chaotisch!

Eduard XVII.
Eduard XVII.
1 Jahr zuvor

Für mich war Peter Urban auch noch lange Zeit der Kult-Kommentator, der einfach nicht ersetzt werden durfte, und kultig ist er (und seine Stimme) natürlich immer noch. Aber in den letzten Jahren war das einfach nicht mehr so überzeugend, und dieses Jahr gabs ja nicht mal mehr den Versuch irgendwelcher bissiger oder origineller Kommentare. Und dann immer alles mehr schlecht als recht abgelesen, inklusive der gleichen Sprüche aus dem Halbfinale… Die Green-Screen-Erklärung war dann natürlich das Highlight. Das wirkte so wie der Opa, der dem Informatik studierenden Enkel erklärt, wie man unter Windows nen Ordner anlegt. Echt ein bisschen unangenehm. 😉

Ich fand tatsächlich Constantin Zöller beim Junior ESC richtig gut und witzig – für das Event fast schon eine Nummer zu fies, aber für den ESC wär der sicher genau der Richtige. Zumindest sollte man dem mal eine Chance geben, find ich.

Und was Barbara Schöneberger angeht: Die ist schon sehr gut als souveräne Alles-weg-Moderiererin, aber sie interessiert sich halt wirklich jedes Mal mehr für ihre eigenen crazy Klamotten als für den ESC. Da dürfte wirklich gerne mal jemand mit ein bisschen mehr ESC-Leidenschaft ran, ob das nun Alina Stiegler ist (die ich ganz toll finde) oder sonst jemand, Hauptsache mal was anderes probieren.

Thomas M. (mit Punkt)
Thomas M. (mit Punkt)
1 Jahr zuvor

Immerhin ist der mit Hilfe des schlimmen NDR ausgewählte deutsche Beitrag in dieser Woche von Platz 42 auf Platz 8 der deutschen Charts hochgeschossen. Der einzige andere ESC-Titel in den Top 100 ist „Stefania“ auf 22 (neu eingestiegen). In den letzten Jahren hatten es in den ersten Nach-ESC-Charts deutlich mehr ESC-Titel hineingeschafft.

Im UK ist Sam Ryder von 78 hoch auf 2, das Kalush Orchestra ist neu auf 38, Subwoolfer (?!!) auf 47, Chanel auf 56 und Cornelia Jakobs auf 59.

Edelweiss
1 Jahr zuvor

Mein Reden seit Jahren! Peter Urban macht das mindesten schon zehn Jahre zu lange. Frau Schönefeld nervt schon 12 Jahre zu lange. Und die NDR-Entourage aus Alina, Stefan, Mohr und dem mit dem schiefen Gesicht, man was für eine unbedarfte Clique! Böhmermann, geht du voran!