
Ich wollte mich heute eigentlich mit den VE-Songs in Australien befassen (mache ich dann morgen), aber das aktuelle ESC-„Binnenmarkt“-Geschehen macht es notwendig, hier noch einmal die Kontroversen rund um das deutsche Finale aufzugreifen. Wir sind uns bewusst, dass einigen Leserinnen und Lesern das Thema inzwischen auf den Keks geht, aber vielen anderen eben auch nicht.
Und unser Anspruch ist bekanntlich, jeden Augenaufschlag in der ESC Szene zu dokumentieren. Und wenn sich nach langem Schweigen erstmals ein Mitglied der deutschen Radiojury zu Wort melden, dann können wir das nicht ignorieren. Auslöser der neuerlichen Diskussion sind die Freunde Thomas Mohr und Marcel Stober vom ESC Update, die dem Thema „Fans fordern Eskimo Callboy im ESC-Vorentscheid“ eine „Sondersendung“ ihres ESC-Update-Podcasts (Bestandteil von NDR Blue) eingeräumt haben.
Marcel und Thomas lassen Ilka und Daniel zu Wort kommen, die die Change.org Petition „Bringt Eskimo Callboy zum Eurovision Song Contest!“ ins Leben gerufen haben. Sie geben darüber hinaus der deutschen VE-Auswahl-Jury eine Stimme – in einem Interview mit SWR3-Musikchef Gregor Friedel, der einer von sieben Vertretern der deutschen Radiojury ist, die für die Besetzung des deutschen Vorentscheids „Germany 12 Points“ verantwortlich zeichnet.
Mit Ilka und Daniel hatten auch wir bereits gesprochen. Ihre Petition haben inzwischen 114.000 Menschen unterschrieben. Nachzutragen ist, dass wir feststellen können, dass inzwischen auf Change.org selbst auf das kontinuierliche Wachstum der Petition aufmerksam geworden sind und diese tagesaktuell in eigene redaktionelle Aktivitäten einbindet. So ist beispielsweise die zugehörige BILD Berichterstattung auf der Petitions-Homepage verlinkt worden.
Gregor Friedel ist 54 Jahre alt und seit 2017 Musikchef von SWR3, einem der reichweitenstärksten ARD-Radiovertreter in der VE-Jury. Gregor Friedel ist jetzt wohl auch eine Art Radiojury-Sprecher. Denn auf eine Interviewanfrage von ESC kompakt an Torsten Engel, Programmchef von NDR2, der für die ARD Radios auf der „Germany 12 Points„-Pressekonferenz gesprochen hat, haben wir drei Stunden nach Veröffentlichung von ESC Update die Antwort erhalten, dass nunmehr Gregor Friedel für ein schriftliches Interview ansprechbar ist.

Gregor Friedel hat während seiner Laufbahn in der ARD schon intensive ESC-Erfahrungen machen dürfen, denn er war von 2010 bis 2016 Referent des ehemaligen ARD-Unterhaltungskoordinators Thomas Schreiber, also in der Zeit, in die sowohl der Erfolg von Lena in Oslo fällt (2010) als auch der letzte ESC in Deutschland in Düsseldorf (2011).
Wir können den 50-minütigen Podcast nicht vollständig im Wortlaut dokumentieren und empfehlen unbedingt ihn selbst zu hören, speziell für die eigene Meinungsbildung. Wir bemühen uns aber, die wichtigsten Elemente hier für Euch zuverlässig zu dokumentieren.
Im Gespräch mit Marcel und Thomas berichtet Gregor Friedel zunächst über das Engagement der ARD-Popwellen für die sechs Songs, die die Radiojury ins Finale gewählt hat. Zwar entscheide jeder Sender autonom, aber zumindest bei NDR 2 und SWR 3 habe man sich darauf verständigt, dass jeder Radiopartner „jeden der sechs Songs einmal am Tag“ spielt. Es gebe aber keine Vorgaben und Absprachen. Nach einer Woche sind die Songs auf Platz 91-104 in den Airplay Charts einstiegen. „Das klingt nicht so richtig burnermäßig.“ sagt Thomas Mohr dazu, wird aber von GF im Jedes-Ding-Will-Weile-Haben-Style relativiert.
Gregor Friedel berichtet ferner über das Branchenecho auf das „Germany 12 Points“-Radiojury-Airplay-Konzept: „Das Verfahren kommt bei Labels, Management, Künstleragenturen und deren Künstlern gut an.“ Er ergänzt: „Der ESC wird in Künstlerkreisen nicht überall so wahrgenommen, wie man es sich vielleicht wünschen würde.“ Tja, hier stellt sich die Frage, wenn dem so sein sollte, warum das so ist?
Die wichtigsten Antworten zur Musikauswahl für den deutschen Vorentscheid möchten wir für Euch mit Originalton abbilden.
Thomas Mohr konfrontiert Gregor Friedel mit dem Vorwurf, dass die Musikauswahl für das deutsche Finale nicht vielfältig genug sei.
„Man kann nicht sagen, wir haben Recht und die anderen haben nicht Recht. Ich kann Euch mal erklären, was bei uns so die Beweggründe waren, worüber wir gesprochen haben und was wir versucht haben abzubilden. Wir haben gesagt, wir möchten ganz gerne eine Abwechselung haben, wir möchten es relativ divers haben, wir möchten eine Abwechselung haben zwischen Männern und Frauen, wir möchten Bands haben, wir möchten Deutsch haben, wir möchten Englisch haben. Wir möchten im Idealfall auch Leute dabei haben, die einen Migrationshintergrund haben. Diese ganze Auswahl, die wir getroffen haben, soll im besten Sinne das darstellen und abbilden, was Deutschland ist irgendwie.
Ein anderer Teil war natürlich, und das ist ja auch die Kritik, die von den Eskimo-Callboy-Fans kommt, dass wir auf Radiotauglichkeit geschaut haben. Klar, das ist eine Radiojury.“
Im Verlauf des Gesprächs referiert Gregor Friedel über die große musikalische Vielfalt im deutschen Finale („unterschiedliche Arrangements, unterschiedliche Aufstellungen, was den Gesang betrifft“) und weist den Vorwurf mangelnder Vielfalt zurück.
Die Jury habe auch den spezifischen ESC-Bezug der 26 Künstler, die in Berlin vor der Jury aufgetreten sind, geprüft, zum Bespiel, ob diese in der Lage sein, „die zehn Tage in Turin durchzustehen“.
Thomas gibt eine Frage von Daniel an Gregor Friedel weiter: Wie kam es zur Entscheidung gegen Diversität? und fragt ergänzend: „Geht da nicht mehr?“
„Ich kann die Frage verstehen, wenn man auf Genrediversität geht. Wir machen das dieses Jahr das erste Mal in dieser Form. Es geht ja keiner an den Start und sagt, ich mache alles richtig. Ich glaube, dass wir im Nachgang mit Sicherheit darüber reden können, ob es da noch eine weitere Facette gibt, die wir vielleicht in der Form nicht berücksichtigt haben, wie sich das der eine oder andere gewünscht hätte.
Ich glaube aber, dass es schwierig wird – das ist tatsächlich meine Wahrnehmung – also ich kann ich mal ein Beispiel sagen, mein persönlicher Geschmack, ich höre Bands wie die „Drop Kick Murphys“ und „Agnostic Front„. Das sind Bands, die gehen so in die Richtung dessen, was Daniel vermutlich hört. Das spiele ich aber nicht im Radio, weil ich weiß, dass das für mich eine persönliche Vorliebe ist, aber Musik ist, die in der breiten Masse in dieser Form nicht wahrgenommen wird und nicht geschätzt wird und auch nicht geliebt wird.
Das bedeutet, ich trenne mein Berufsleben stellenweise von meinem Privatleben, was meinen Geschmack betrifft. (…) Und das ist eine Geschichte, die wir selbstverständlich auch gemacht haben bei der Auswahl der Songs.
Alex Wolfslast hat es gesagt bei der Pressekonferenz, die Band (er meint Eskimo Callboy, Anm. ESC kompakt) ist sehr weit gekommen, aber am Ende des Tages stellen sich halt auch weitere Fragen. Die Kollegen von ESC kompakt hatten im Dezember in einem Artikel geschrieben, dass die öffentliche Halbwertzeit des Songs „Pump It Up“ nicht groß genug sei. Die Frage ist ja, kann der Song (gemeint ist dann „We Got The Moves“, den Song, den Eskimo Callboy als weitere Alternative in Berlin vorgestellt hat, Anm. ESC kompakt) wirklich bestehen gegen alle anderen Songs, die an dem Abend laufen. Es ist eine Momentaufnahme, die toll ist, die Spaß macht, weil sie auch anders ist, aber hat es tatsächlich die Qualität, die andere Songs haben, gegen die es angeht irgendwie?
Am Ende des Tages ist es ein Wettbewerb. Die Eckdaten des Wettbewerbs sind klar. 943 Bewerberinnen und Bewerber sagen, das ist ok, und für einen Bewerber soll eine „lex Eskimo Callboy“ gemacht werden. (…)“
Marcel hinterfragt dann das Attribut „radiotauglich“.
„Das kann ich Dir nicht beantworten. Wenn ich das beantworten könnte, säße ich in einer Villa in Los Angeles würde ich Postkarten schreiben und Quincy Jones in seinen Pool gucken natürlich. Wir haben mit bestem Wissen und Gewissen Leute ausgesucht, von denen wir glauben, dass sie das Potential haben. Letztes Jahr hat Måneskin gewonnen, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Jahr wieder ein Rocktitel gewinnt? Ihr wisst, dass es jedes Jahr irgendwie anders ist.“
Thomas Mohr: Warum hat es Eskimo Callboy nicht zum ESC Vorentscheid geschafft?
„Es ist eine Mischung aus wie radiotauglich ist etwas, was für eine Wahrnehmung hast Du auch. Diese Band war – und das sind keine Floskeln – total begeisternd, weil es wahnsinnig sympathische Jungs sind, das muss man mal ganz klar sagen. Aber der Punkt war einfach tatsächlich: kann dieser Song bestehen? Das ist das eine. Das andere ist und das ist ein Thema, das muss man einfach auch ansprechen, weil es auch Rückmeldungen sind, die wir auch bekommen haben. Es gibt nicht nur Leute, die Eskimo Callboy da sehen wollen. (…) Wir haben, als dieser Sturm losging, Zuschriften erhalten von Leuten, die sagen, wir möchten auch nicht, dass eine Band, die Eskimo im Namen hat, die früher zumindest mal irgendwie schwierige Texte gehabt hat und sowas, für ein diverses Deutschland steht. Das ist halt auch Teil der Wahrheit, es gibt eben nicht nur diese eine Seite. (…) Wir leben in einer pluralen diversen Gesellschaft, da muss ich auch einmal die Meinung von jemand anderem akzeptieren.“
Marcel und Thomas ergänzen die vielstrapazierte Wildcard-Frage.
„Wir würden die Leute, die wir ausgesucht haben, düpieren. Das haben auch die Leute von ESC kompakt geschrieben. Ich weiß nicht, ob wir Recht haben. Aber haben wir versucht, das Beste zu machen? Ja, das haben wir. (…) Ich finde es nicht gerecht, und da rede ich wirklich von Gerechtigkeit, dass es eine „lex Eskimo Callboy“ geben soll.
Ich finde auch nicht, dass die Jury einen Fehler gemacht hat. (…) Es gab auch Stimmen in der Jury, von der Radiotauglichkeit aus gesehen, die gesagt haben, ich kann damit (gemeint sind die beiden Eskimo Callboy Songs) überhaupt nichts anfangen. Das ist halt auch Teil der Wahrheit.“
Wie oben empfohlen, der Originalton gibt Euch sicher noch weitere Impulse als diese Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen.
Das vorausgeschickt mag ich vier Impressionen festhalten.
1.) Es ist sicher gut und glaubwürdig, dass wir erstmals einen Radiojury-Originalton bekommen. Dieser kommt allerdings relativ spät, jetzt wo die Aufregung rund um die Wildcard-Diskussion schon abflachte. Dieser „Sturm“ (wie GF das selbst nennt) wird durch das Interview logischerweise wieder angefacht. Das ist die Kehrseite.
2.) Wenn es das Wort „verschwurbelt“ noch nicht geben würde, es würde für Gregor Friedel erfunden.
3.) Zwei Dinge sind mir diesbezüglich aufgefallen.
Zum einen ist die Formulierung, der ausgewählte Interpret müsse „die zehn Tage in Turin durchstehen“ sehr unglücklich. Eine ESC-Finalteilnahme ist kein Gefängnisaufenthalt, es ist ein Festival der Liebe. Wer immer gewählt wird, ist ein Held weit über die Bubble hinaus und bleibt es ein Leben lang. Ich habe dazu hier auch das Wort an die Lucky Six 2022 persönlich gerichtet.
Zum anderen wäre es meine subjektive Empfehlung, in einem sensiblen Environment wie diesem auf distinguierende Selbstauskünfte zu verzichten. Ich habe von den Bands „Drop Kick Murphys“ und „Agnostic Front“ noch nie gehört (die Pseudo-Aggro-Bandnamen kommen mir vor wie ein Auszug aus dem KATAPULT-Magazin), aber ich würde sie nicht als Beweise dafür bemühen, dass sich der eigene Musikgeschmack von der „breiten Masse“ unterscheidet. Dann noch das Heranschmeißen an Daniel… Just sayin´.
4.) In dem Interview wird zweimal ESC kompakt von Gregor Friedel zur Untermauerung seiner Ansichten zitiert. Wir freuen uns natürlich, dass wir von der deutschen ESC-Jury gelesen werden, aber wir möchten festhalten, dass wir hier auf dem Blog sämtliche Positionen und Meinungen vertreten. Wir sind acht Blogger*innen und gucken achtmal verschieden auf auf die ESC-Welt. Wir bemühen uns, jede Perspektive zu Wort kommen zu lassen und dabei leidenschaftlich und fair zu sein. Es sprengt hier den Rahmen, auf die mit ESC kompakt untermauerten Standpunkte und die (von uns) nicht beabsichtigte Fraternisierung einzugehen, aber wir eignen uns nur suboptimal als einseitige Kronzeugen für eine und nur eine ausschließliche Sicht auf die Dinge rund um das schönste Hobby der Welt.
Das Schlusswort hat Thomas Mohr, der im ESC Update zwei Fazits zieht und sein zweiter Punkt fasst instinktsicher zusammen, was vielen derzeit durch den Kopf geht:
„Mein zweiter Punkt ist eine Hoffnung. Rund um diese ganze problematische Wildcard-Diskussion hoffe ich, dass diese 100.000 Unterschriften und das alles nicht nur eine Fangeschichte ist für Eskimo Callboy. Wenn das der Fall wäre und wir in Zukunft jedes Mal auf organisierte Fans treffen, die ausgerechnet ihre Lieblingsmusik durchsetzen wollen, dann haben wir ein Problem. Aber ich glaube in der Tat, dass es diesmal um etwas ganz anderes ging. Eskimo Callboy waren nur ein Symbol für viele Fans, die wirklich frustriert waren – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Es geht um Repräsentation und Partizipation, das sind die Punkte, die auch letztlich für einen öffentlich-rechtlichen Sender entscheidend sind, um auch seine Relevanz in der Gesellschaft zu begründen. Ich interpretiere das als Aufschrei, Teil vom Ganzen sein zu wollen und das finde ich total berechtigt und ich finde auch, dass wir da auf Zwang ein paar gute Schritte gemacht haben.“
Also Dropkick Murphys kann man aber schon kennen 😉 Tolle Band in jedem Fall, die auch sehr wohl radiotauglich ist/wäre, aber sowas würde man sich bei nem mainstream Radiosender eh nie trauen zu spielen.
Abgesehen davon ist das dennoch ein seltendämliches Argument. Schließlich sollte Eskimo Callboy nicht zum Sieger erklärt haben, sondern eben sich der Öffentlichkeit in einem Vorentscheid stellen können, die dann eben statt der Herren Radioexperten entscheiden können, was gewünscht ist. So hat man jetzt zwar die Wahl, aber eben nur zwischen sehr poplastigen recht gleichförmigen Songs. Naja hat der NDR dann immerhin ne Ausrede, wenns wieder nach hinten los geht.
Wenigstens ist von Felicia ein Song dabei den ich ganz gut finde.
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