Advent der besten DACH-ESC-Beiträge (21): Sag mir, wie weit, wie weit, wie weit, wie weit willst du geh’n?

Wir haben Euch im letzten Monat nach Euren liebsten ESC- und Vorentscheidungs-Beiträgen aus Österreich, der Schweiz und Deutschland gefragt– einen lieben Dank an dieser Stelle an alle, die dabei so fleißig mitgemacht und so insgesamt 154 unterschiedliche Beiträge in die Auswahl gebracht haben. Diese haben wir ausgewertet und präsentieren Euch nun Eure liebsten 24 Beiträge der sogenannten DACH-Länder – jeden Tag einen neuen. Bis Heiligabend!

 

Platz 4: Mia. „Hungriges Herz“ (Deutschland 2004 (Vorentscheid)):

„Man kann diese Musik nicht veröffentlichen, man kann mit der deutschen Sprache nicht arbeiten und mit dieser Sängerin schon gar nicht.“ (Zitat aus Interview)

Als Mia. im Sommer 2002 ihr erstes Album „Hieb und Stichfest“ veröffentlichten, lagen Hass und Liebe in der Musikwelt nah beieinander. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich „Alles neu“ zum ersten Mal hörte und anschließend wochenlang meinen Nachbarn damit auf den Sack ging. Kurze Zeit später brachten Mia. dann einen Club in meiner Heimatstadt vor meinen Augen und denen einer Handvoll weiteren Konzertbesuchern geradezu zum Explodieren. Der Schweiß der tanzenden Fans lief die Wände runter und ich hatte anschließend tagelang das Gefühl, betäubt zu sein. Mia. waren fünf Jahre nach ihrer Gründung rotzig und wollten gehört werden. Ihnen war klar, dass sie nicht von allen gemocht wurden, aber sie wollten Gleichgesinnte ansprechen, nicht egal sein. Das taten sie mit einer Energie, der man sich auf ihren Konzerten kaum entziehen konnte.

Mitschülerin Sarah Kuttner, die heute als Moderatorin und Schriftstellerin bekannt ist, stellte Teile der Band 1997 einander vor. Der heutige Name Mia. leitet sich vom früheren Bandnamen Me In Affairs ab, mittlerweile assoziiert die Gruppe das Kürzel auch mit anderen Dingen, wie beispielsweise Musik ist Alles oder Menschen in Aufruhr. Zwei Jahre später veröffentlichte die Band bei dem Musiklabel BMG ihre erste Single „Sugar my Skin“. Doch die Band und die Plattenfirma schienen nicht so recht zusammenzupassen und trennten sich schnell wieder.

Die in geringer Stückzahl auf dem Musiklabel R.O.T. veröffentlichte zweite Single „Factory City“ zeigt Mia., wie man sie heute kaum wiedererkennen würde. Der Electropunk Remix des Liedes mauserte sich unerwartet zu einem Hit in der Clubszene. Im folgenden Jahr dann der erste Erfolg mit „Alles neu“, dessen Musikvideo die Musiksender MTV und VIVA bald in Heavy Rotation spielten und der Band so zum ersten Charteinstieg verhalfen. Schnell kamen Vergleiche zur Neuen Deutschen Welle und dort insbesondere zu der Musikgruppe Ideal auf. Mia. scherte sich aber nicht um diese Vergleiche, setzte sich gegen Rechtsextremismus ein und erspielte sich auf zahlreichen Konzerten eine immer größer werdende Fangemeinde: da lag etwas von einer Revolution in der Luft, die besonders die linke Szene ansprach.

Wie schnell und brüchig diese neue Liebe aber war, zeigte sich schon ein Jahr später: Mia. veröffentlichte 2003 als Teil des Kunstprojekts „ANGEFANGEN“ das Lied „Was es ist“. Darin vertonten sie einige Textzeilen aus einem Gedicht von Erich Fried und setzten sich mit einem neuen, entspannteren Umgang mit der deutschen Herkunft und der eigenen Identität auseinander. Nicht die Vergangenheit vergessen, aber sich auch nicht mehr schämen, aus Deutschland zu kommen. Mit der positiven symbolischen Verwendung der Farben der deutschen Flagge in Musikvideo und Text wollten Mia. zum Nachdenken anregen, stießen dabei aber gerade die linke Szene komplett vor den Kopf, die die Band dafür sofort scharf kritisierte und zum Teil angriff. Mia. erntete nun auf Konzerten und überall wo die Band auftauchte heftige Gegenaktionen, wurde mit Eiern und Tomaten beworfen. Auch viele Journalisten kritisierten die Mitglieder ungewohnt scharf. Ob nun unclever und dumm oder ihrer Zeit voraus – zwei bis drei Jahre bevor Deutschland, angestoßen durch die Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land geradezu in einen „schwarz-rot-gold“-Rausch verfiel – Mia. erlebten damals ihre wohl anstrengendste Zeit in der Öffentlichkeit.

Nach dieser Erfahrung wurde auch ein Jahr später innerhalb der Band stark diskutiert, ob sie der Anfrage folgen möchte, am deutschen Vorentscheid teilzunehmen. Klar, Sängerin Mieze Katz ist weit davon entfernt, durch Stimmakrobatik zu glänzen und die Band war noch immer hauptsächlich durch ihre energetischen Auftritte als durch angepasste Auftritte im Fernsehen bekannt. Doch Mia. ließ sich, trotz irritierter Reaktionen ihrer Fans, auf dieses Experiment ein, „weil es uns am Herzen liegt, die Dinge zu gestalten und zu verändern“ – und sollte es nicht bereuen.

Ihr „Hungriges Herz“, das schon auf Startplatz 2 ins Rennen ging, erreichte zwar nicht das Finale der besten zwei, das schließlich Max Mutzke klar für sich entschied, aber es wurde ihr bis dato größter Hit: Insgesamt hielt sich der rockige Poptitel zwölf Wochen in den deutschen Charts und erreichte auch die Hitliste in Österreich. Das im März veröffentlichte Album „Stille Post“ verkaufte sich gut und schaffte es bis auf Platz 13 – in Österreich bis auf Platz 19. Die Single von „Hungriges Herz“ enthält zudem eine längere „Eurovision-Version“, auf der Mieze Katz neben dem deutschen Text auch auf französisch und englisch zu hören ist. Auch Stefan Raab hatte seine Freude mit dieser Version und vor allem mit den Wortwiederholungen von Mieze Katz.

Auch wenn der raue NDW-Elektropunk immer mehr einer Nena-verwandten Popidee wich – „Hungriges Herz“ ist bis heute eines der Lieblingslieder vieler Fans, wird aber interessanterweise kaum noch mit dem Versuch, beim Eurovision Song Contest mitzumachen, verbunden. Umso interessanter, dass viele von Euch das Lied nicht vergessen haben und es in unseren Adventskalender gewählt haben. Alte und neue Fans fanden den Weg (zurück) zur Musik von Mia. und auf ihre Konzerten. Der Band, die auch mit den beiden weiteren Auskopplungen „Ökostrom“ und „Sonne“ in die deutschen Charts gelangte, schien der neue Erfolg zu gefallen.

Zwei Jahre später erschien die poppige Single „Tanz der Moleküle“, die auch noch heute viele Partys bereichert. Mit dem Einstieg in die deutschen Top 20 und stolzen 41 Wochen in den deutschen Verkaufscharts wird „Tanz der Moleküle“ zum größten kommerziellen Erfolg der Band. Das Album „Zirkus“ bringt mit diesem Hit sowie „Uhlala“, „Zirkus“ und „Engel“ schließlich vier Singles in die Charts und wird mit Gold ausgezeichnet. Mit dem Lied „Zirkus“ vertritt Mia. zudem Berlin 2007 beim Bundesvision Song Contest und erreichen hinter Ooomph, Jan Delay und Kim Frank den 4. Platz.

Mia. sind auf dem Zenit ihres Erfolges und so kann auch das 2008 veröffentlichte Album „Willkommen im Club“ mit den Singles „Mein Freund“ und „Mausen“ noch daran anknüpfen. Auch wenn Mia. längst den Punk hinter sich gelassen haben und nun eher in die Kategorie rockiger Elektropop gesteckt werden, klingen sie wie keine andere Band.

In einer darauf folgenden kreativen Schaffenspause und Sinneskrise verlässt Gitarrist Ingo Puls 2011 die Band, während Andy Penn mit Eva Briegel, Sängerin der deutschen Band Juli, eine Familie gründet. 2012 meldet sich die nun 4-köpfige Band mit dem Album „Tacheles“ und der Single „Fallschirm“ zurück. Auch wenn sich das Album in Deutschland auf Position 3 platzieren kann und auch in Österreich und der Schweiz in die Charts gelangt: „Fallschirm“ ist zwar mit Platz 11 die höchste, aber bis heute auch die letzte Single-Chartplatzierung der Band. Die folgenden Alben „Biste Mode“ und in das in diesem Jahr veröffentlichte „Limbo“ sowie die 2017 erschienen Coverversionen mit zahlreichen Kollegen zum 20-jährigen Bestehen der Band können nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen, gestatten der Band aber mit neuer Leidenschaft durch die Clubs dieses Landes zu touren.

Vor kurzem veröffentlichten Mia. mit der Band KLAN, die sich im letzten Jahr in der engeren Auswahl für den deutschen Beitrag für Rotterdam befanden, das Lied „Nie gesagt“, mit dem sie auf die Gefahr von Depressionen gerade in Verbindung der Isolation durch COVID aufmerksam machen wollen.

Eine bewegte Bandgeschichte – und man darf gespannt sein, was wir von Mia. noch zu hören bekommen. Empfehlenswert sind ihre Konzerte auch noch heute – auch wenn vielleicht kein Schweiß mehr von den Wänden läuft.

Die bisherigen Adventstürchen findet Ihr hier:
Platz 24: Timebelle „Apollo“ + Cesár Sampson „Nobody But You“
Platz 23: Ben Dolic „Violent Thing“
Platz 22: Mary Roos „Nur die Liebe lässt uns leben“
Platz 21: Max Mutzke „Can’t Wait Until Tonight“
Platz 20: Katja Ebstein „Diese Welt“
Platz 19: Roman Lob „Standing Still“
Platz 18: DAWA „Feel Alive“
Platz 17: Peter, Sue & Marc „Io senza te“
Platz 16: Lena „Taken By A Stranger“
Platz 15: Rosenstolz „Herzensschöner“
Platz 14: Ella Endlich „Adrenalin“
Platz 13: Lena Valaitis „Johnny Blue“
Platz 12: Gjon’s Tears „Répondez-moi“
Platz 11: Luca Hänni „She Got Me“
Platz 10: ZOË „Loin d’ici“
Platz 9: Texas Lightning „No No Never“
Platz 8: Udo Jürgens „Merci Cherie“
Platz 7: Michael Schulte „You let me walk alone“
Platz 6: Blitzkids mvt. „Heart on the line“
Platz 5: Lilly among clouds „Surprise“


34 Kommentare

  1. Wow, ich wundere mich immer mehr über die vorderen Plätze.
    Mia. sind schon ein bedeutender Teil der deutschen Musikszene.h

    Danke für diesen schönen informativen Text, Manu.

  2. Ach, ich freu mich. Mia. hatte ich auf Platz 1 gesetzt und hab schon befürchtet, sie tauchen hier gar nicht mehr auf. Für mich wohl der beste VE Song in den 00er Jahren

  3. Ich habe Mieze Katz erst als Jurorin von DSDS kennengelernt (ich glaube, sogar im Marianne-Rosenberg-Jahr, also doppelter ESC-Bezug!) und Sarah Kuttner ist für mich extra3-Moderatorin (krass, dass sie auch mal einen VE moderiert hat ^^). Und dann war Mieze mal im Songcheck dabei. Sehr sympathische Frau!

  4. Das ist ja mal der Hammer! 😊
    Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet. MIA und Scooter waren 2004 meine Favoriten.
    Ich kannte die Band vorher nicht, d. h. ein Teil des Refrains wurde mal für eine Doku-Sendung im ZDF benutzt. Habe ich wiedererkannt.😉
    Ich habe den Spirit der Sängerin bei der VE wirklich gemocht und auch das Lied, aber … keine Ahnung, wie der Song in Istanbul abgeschnitten hätte. Wahrscheinlich war Max wohl die sichere, weil internationalere „Bank“, MIA wäre aber trotzdem mal ein spannendes Experiment gewesen. Denn sie repräsentieren ja schon einen Teil der deutschen Musikkultur, lehnte sich ja an die NDW an.

    Neben „Hungriges Herz“ gefällt mir das Duett mit KLAN „Nie gesagt am besten.

    • „Einen Teil des Refrains von ‚Was es ist’…. Man sollte den Text noch mal durchlesen, BEVOR man ihn abschickt, sorry.😡

  5. Hungriges Herz? Da wird mir gleich ganz warm ums Herz. 🙂
    Was für eine schöne Überraschung: Moderne VE-Beiträge schlagen musikalische ESC-Mottenkugeln. Falls jetzt noch „Satellite“ kommt, bleiben höchstens 2 Lieder mit Tante-Gertrud-Gütesiegel.

  6. 5 Gewinnerinnen fehlen noch und nur noch 3 Adventstürchen: Lys, Nicole, Celine, Lena und Conchita, mindestens zwei „Damen“ gehen leer aus 🙂

  7. Ich bin positiv überrascht was auf einmal für Songs hinter den Türchen auftauchen. Ist mal was anderes. Die Sieger kennt man ja schon fast auswendig. Und immer wieder neue interessante Geschichten👍🏻

  8. Manu, vielen Dank für die hochinteressanten Hintergrundberichte zu den InterpretInnen, die Du uns hier jeden Tag bietest!

  9. Wow damit hätte ich jetzt echt nicht gerechnet, obwohl die auch auf meiner Liste waren 😯
    Bisher sind von meiner Liste Diese Welt, Taken by a Stranger, Johnny Blue, Merci Cherie und jetzt Hungriges Herz drangekommen.
    Falls jetzt noch Margot Eskens oder Maggie Mae drankommen, dann fress ich einen Besen 😂😂

      • Schön zu sehen, dass es doch auch Titel gibt, an denen sowohl Du als auch Deine liebe Tante Gertrud Gefallen finden können 🙂

  10. Ich bin auch ziemlich überrascht. Aber angenehm. Finde den Song immer noch sehr schön. Ob sie erfolgreich beim ESC gewesen wäre. Who knows.
    Meine Wencke wird wahrscheinlich nicht mehr auftauchen. Egal – ist trotzdem einer meiner Lieblingstitel.

  11. Wow, immer wieder nette Überraschungen hinter den Türchen – danke an alle, die kreativ nominiert haben – und natürlich an Manu, der immer sehr interessante Artikel für den Kalender schreibt!

  12. Mia.!!! ❤❤❤ Die Band hat mich durch meine Jugendzeit begleitet. Die Vergleiche mit Ideal finde ich gar nicht mal so übel, im Gegenteil. Und außerdem hat Annette Humpe seinerzeit ebenfalls gerne bei Debbie Harry abgeguckt… .
    Danke Manu für den Link zum TV Total-Auftritt. Mieze’s Französisch ist ja grauenhaft, ich dachte schlimmer als meins geht kaum. Stellenweise dachte ich, sie singt auf Dänisch.
    Schade, dass man das Konzept des 2004er VE nicht beibehalten hat. Vielleicht wäre es nie zur Schande von Kiew (Teil 1) gekommen. Ja, vielleicht… .

  13. Mein Tipp für die vorderen drei Plätze, ohne mich auf eine exakte Reihenfolge festzulegen: „Satellite“, „Rise Like a Phoenix“ und „Frauen regier’n die Welt“

    • „Frau’n regier’n die Welt“? Glaub‘ ich zwar nicht ganz, aber wir hatten schon einige Überraschungen im Adventskalender. Fänd‘ ich gut. Im Andenken an den leider viel zu früh verstorbenen Roger Cicero.
      Mir hat der Auftritt damals gut gefallen, sehr gentleman-like, sehr stilvoll.🙂

  14. Ich wusste gar nicht, dass die mal am VE waren. Habe die nur nach langer Zeit wieder gehört, als sie am 3. Oktober in Potsdam auftraten.

    Das ist ja ganz toll, wäre solch eine Reaktion mit Tomaten und Eiern auch in Frankreich oder den USA passiert? Naja, aus meiner ESC-Telegram-Gruppe hat sich mal ein Schwede von meiner Deutschlandflagge im Hintergrund bei einem Skype-Anruf provoziert gefühlt 😅

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