Wie gut haben die Wetten, Leser und Blogger den Ausgang des ESC 2023 vorhergesagt? (Leaving Liverpool 10)

Die Wettquoten vor dem Finale

Es scheint jedes Jahr aufs Neue eines der liebsten Hobbys der Fans in der ESC-Bubble zu sein: zu versuchen, den Ausgang des Wettbewerbs vorherzusagen. Viele Diskussionen drehen sich darum, wer wie abschneiden wird und gerne wird dabei auf die Wettquoten verwiesen. Der ESC scheint dabei gleichzeitig so vorhersehbar wie unberechenbar. Deshalb wollen wir auch in diesem Jahr wieder einen Blick darauf werfen, wie gut der Ersteindruck der Leser:innen, die Prognosen der Leser:innen und Blogger:innen sowie die Wettquoten den tatsächlichen Ausgang des ESC 2023 vorhergesagt haben.

Die betrachteten Abstimmungen und Prognosen

Zur Analyse der Vorhersagekraft haben wir  folgende Abstimmungen und Prognosen zu unterschiedlichen Zeitpunkten betrachtet:

Zeitige Prognosen

Prognosen nach den Proben

Prognosen kurz vor dem Finale

Die zeitigen Prognosen sind vor allem vom Ersteindruck geprägt. Bei der Prognose nach den Proben sind zum ersten Mal Elemente des Auftritts mit einbezogen. Und bei den späten Prognosen waren allen Tippenden die vollständigen Auftritte bekannt.

Beim EKI und ESC kompakt ESC ging es einzig darum, wer der Favorit der Blog-Leser:innen ist. Die Wettquoten sowie die Prognosen der Leser:innen in den Songchecks sowie im Tippspiel und die Prognose der Blogger:innen hingegen versuchten, möglich rational das Ergebnis vorherzusagen. Ob die „emotionale“ oder „verkopfte“ Herangehensweise bessere Ergebnisse bringt, werden wir im Folgenden auch analysieren.

Die Auswertung

Zur Auswertung wurden die Beiträge von Platz 1 bis Platz 26 gereiht. Das sind die Kriterien, nach denen die Anordnung erfolgte:

  • ESC-Kompakt-Index (EKI) im ESC-Barometer: Die Sortierung der Beiträge erfolgte nach dem Durchschnittswert (in diesen flossen die Einzelbetrachtung „ist ganz ausgezeichnet“, die Top2-Betrachtung „ist ganz ausgezeichnet“ und „gefällt mir gut“ zusammen sowie die Durchschnittsbewertung, der Polarimeter-Index und der umgedrehter Couldn’t-Care-Less-Index ein.)
  • Songcheck-Prognose der Leser:innen: Die Beiträge wurden nach dem Durchschnittswert gereiht (für einen Top-5-Tipp wurde der Wert 1 vergeben, für einen Platz-6-bis-10-Tipp der Wert 2 und so weiter. Ein Halbfinal-Aus-Tipp wurde mit dem Wert 6 gleichgesetzt. Anschließend wurde für jeden Beitrag ein Durchschnittswert ermittelt und die Titel danach sortiert.)
  • ESC kompakt ESC: Sortierung entsprechend dem Ergebnis der Abstimmung.
  • Blogger:innen-Prognose: Jede:r Blogger:in hat einen Tipp für die Top 5 abgegeben, danach wurde ein Punktwert berechnet und die Beiträge danach gerankt (Platz 1 erhielt 5 Punkte, Platz 2 erhielt 4 Punkte usw., anschließend wurden alle Punkte von allen Blogger:innen addiert)
  • Tippspiel: Hier wurden ähnlich wie bei den Blogger:innen Punktwerte vergeben und die Beiträge danach gerankt. Zuerst wurde ausgewertet, wie häufig ein Beitrag auf den ersten bis fünften Platz getippt wurde, dann die Anzahl für Platz 1 mit 5 multipliziert, die Anzahl für Platz 2 mit 4 usw. und anschließend alle Punktwerte addiert.
  • Wettquoten: Sortierung der Beiträge nach den Wettquoten mit Wetten auf den Sieg.

Nach der Erstellung des Rankings wurde die Differenz zur tatsächlichen Platzierung berechnet. Falls eine Prognose einen Nicht-Qualifikanten in den Top 26 gesehen hat, wurde damit so umgegangen: die Beiträge, die sich in Liverpool nicht für das Finale qualifizieren konnten, wurden nach prozentual erhaltener Punktzahl auf die Plätze 27 bis 37 des „realen Ergebnisses“ einsortiert und auch zu diesen die Differenz berechnet,

Anschließend wurden für alle Plätze die absoluten Abweichungen addiert (z.B. für die Top 5 des EKI, in der die Abweichungen +25, 0, +2, +12, -1 betrugen: 25 + 0 + 2 + 12 + 1 = 40). Ein geringer Summenwert heißt hier, dass die getippten Platzierungen nahe an der realen Platzierungen waren, ein hoher spricht für große Abweichungen. Dies wurde einmal für alle Platzierungen und einmal für die Top 5 gemacht.

Zeitige Prognosen

Am Anfang der ESC-Saison wurde der Ausgang des Wettbewerbs folgendermaßen vorhergesagt:

Zur besseren Auffindbarkeit sind die Top 5 und Deutschland farbig hinterlegt. Die Länder, die sich beim ESC dann gar nicht für das Finale qualifizieren konnten, sind grau markiert.

Zum Vergleich sind die Summen der absoluten Abweichungen der Auswertung vom letzten und vorletzten Jahr auch noch einmal angegeben.

Die Top 5 am besten vorhergesagt haben die Leser:innen. Vor allem bei Italien hattet Ihr schon von Anfang an den richtigen Riecher, die Wetten lagen hier relativ weit daneben. Dafür stimmte die Tendenz bei Israel in den Wettquoten eher. Und auch für alle Platzierungen insgesamt war die Prognosekraft der Wetten minimal besser, insgesamt aber deutlich schlechter als im letzten  und vorletzten Jahr zu einem frühen Zeitpunkt. Als nicht so guter Prädiktor erwiesen sich in diesem Jahr der EKI und der ESC kompakt ESC. Falscher konnte der EKI mit der Platzierung von Deutschland gar nicht liegen. Und beim ESC kompakt ESC konnte sich neben der ebenfalls viel zu guten Platzierung von Deutschland die spätere Drittplatzierte Noa Kirel nicht einmal für das Finale qualifizieren.

Der größte Überraschungs-Nicht-Qualifikant aus Sicht der Frühsaison ist Georgien, welches in allen Rankings zu finden war. Und Deutschland wurde durchweg überschätzt.

Prognosen nach den Proben

Dass einzelne Beiträge direkt nach der Veröffentlichung besser oder schlechter ankommen, als dann während der Show, liegt unter anderem auch daran, dass manche Lieder nur als Studioversion veröffentlicht wurden, von anderen wiederum kannte man schon Liveauftritte in unterschiedlicher Qualität. Auf der großen Bühne können Beiträge dann durch die Inszenierung und die Livequalitäten der Acts noch viel gewinnen oder verlieren. Man könnte also annehmen, dass die Wetten nach den Proben besser liegen als zu Anfang der Saison – immerhin sind hier nun erste Bilder und Probenausschnitte bekannt. Schauen wir also, wie sich die Wettquoten nach den Proben verändert haben:

Erstaunlicherweise liegen die Wetten zu diesem Zeitpunkt bezüglich der Top 5 noch mehr daneben als im März. Die erste Platz von Schweden und der zweite von Finnland wurden zwar weiterhin korrekt vorhergesagt, danach wurden aber Frankreich und Spanien deutlich die Ukraine leicht überbewertet. Die Abweichung aller Platzierung ist jedoch besser als in der Frühsaison. Am meisten überschätzt wurde das Vereinigte Königreich (wobei man hier beachten muss, dass die Briten wettbegeistert sind und gerne auf das Heimatland wetten, Mae Müller war bei den Wetten auf den letzten Platz auch vorne mit dabei), am meisten unterschätzt Estland.

Da im letzten Jahr keine Auswertung der Wetten zu dem Zeitpunkt erfolgte, ist kein Vergleich möglich.

Prognose kurz vor dem Finale

Ab dem späten Donnerstagabend wussten alle, was sie am Finalabend erwarten würde: die TV-Bilder waren aus den Halbfinals oder den Uploads der gesetzten sechs Länder auf YouTube bekannt. Deshalb, aber auch weil sich diesmal keine Nicht-Qualifikanten in den Top 26 tümmeln konnten, ist in diesen Prognosen mit den besten Tipps zu rechnen. Schauen wir uns also an, wie gut die Leser:innen im Tippspiel, die Blogger:innen und die Wettenden gelegen haben:

Die „Sieger“ beim Tipp der ersten fünf Plätze sind wie in der Frühsaison die Leser:innen mit Ihrer Schwarmintelligenz. Alle im Tippspiel am häufigsten in die Top 5 getippten Beiträge waren auch in der Top 5! Und dabei wurden fast alle Plätze korrekt vorhergesagt: Schweden, Finnland und Israel stimmen (genauso wie Ukraine auf Platz 6) und Norwegen und Italien sind nur um einen Platz vertauscht. Da lagen die Wetten, die immer noch auf Spanien und die Ukraine setzten, stärker daneben. Die Blogger:innen lagen wie alle anderen auch mit der Top 2 richtig und hatten auch ein gutes Gespür für das gute Abschneiden Italiens, allerdings haben sie Norwegen und Israel unterschätzt.

Deutschland wurde auch kurz vor dem Finale weiterhin überschätzt, von den Leser:innen etwas mehr als von den Wettenden. Am meisten unterschätzt wurden Estland und Litauen, wobei die Leser:innen hier etwas weniger falsch lagen als die Wettenden.

Im Vergleich zum letzten Jahr wurde im Tippspiel die Top 5 besser vorhergesagt, von den Blogger:innen und Wettenden jedoch schlechter. Und auch die absolute Abweichung aller Platzierungen war in diesem Jahr größer als im letzten und vorletzten. Auch wenn es in diesem Jahr manchmal so wirkte, als gäbe es eine sehr starke Korrelation zwischen Wettquoten und Platzierungen, ist dieser Eindruck durch die ersten beiden Plätze vielleicht etwas verfälscht worden.

Bemerkenswert ist auch Folgendes: basierend auf den Daten von drei Jahren scheinen die Leser:innen den besten Riecher zu haben! 2023 und 2021 betrug die Summe der absoluten Abweichung der Top 5 nur 2 Plätze, 2022 waren sie mit einen absoluten Summenwert von 5 genauso gut wie alle anderen.

Wie in jedem Jahr hat diese Auswertung zwei Schwachpunkte. Zum einen ist natürlich keine Prognose unabhängig von der anderen. Alle Leser:innen und Blogger:innen lassen sich sicherlich bewusst oder unbewusst von den Wettquoten beeinflussen, die Leser:innen von uns Blogger:innen und die Blogger:innen von den Kommentaren der Leser:innen. Spannend wäre eine unbeeinflusste Vorhersage, aber das ist kaum möglich. Zum zweiten darf man die Platzdifferenzen natürlich nicht absolut „wörtlich“ nehmen, sie zeigen eher Tendenzen auf. Die Ranglisten wurden nach bestimmten Regeln erstellt und wir  alle wissen auch, dass ein Rang fünf in den Wettquoten nicht heißt, dass die meisten Wettenden den Beitrag auf Platz 5 sehen, sondern dass dieser am fünftwahrscheinlichsten Siegersein wird.

Wie ist Eure Meinung zu dem Stellenwert der Wetten, wenn Ihr die blanken Zahlen betrachtet: sind sie überbewertet oder doch ziemlich gut? Welche Abweichungen überraschen im Nachhinein am meisten? 

Bisher in der Serie „Leaving Liverpool“ erschienen:


9 Kommentare

  1. Es ist schon sehr erstaunlich wie gut in den letzten Jahren die Wettquoten den Ausgang des ESCs vorhergesagt haben. Auch sehr erstaunlich wie sehr die Juroren den Wettquoten gefolgt sind, besonders 2023. Warum dann noch überhaupt die Livesendung durchführen, wenn schon vorher durch die Wettquoten alles klar ist?

  2. „am meisten unterschätzt Estland.“

    Noch mehr wurde Belgien unterschätzt. Die Wetter hatten Gustaph bis zu den Halbfinals überhaupt nicht auf dem Schirm.

  3. Also ich würde nach wie vor -wenn es rechtlich irgendwie möglich wäre- die Wetten auf den ESC verbieten! Das zerstört doch die ganze Spannung! Spannend wird es dann „nur“ noch -wie in diesem Jahr- zwischen Platz 1 und Platz 2 am Ende des Votings. Also welches Land jetzt den Sieg mit nach Hause nimmt, aber das beide Länder auf den ersten beiden Plätzen sein werden haben ja die Wettquoten schon vorhergesagt. Der Gewinner wurde in den letzten Jahren immer richtig voraus gesagt! Ob die anderen „Plätze“ richtig voraus gesagt wurden oder nicht? Geschenkt! Denn es geht ja in erster Linie um den Gewinner.

    Ich kann mir auch vorstellen, dass sich die Jurymitglieder -selbst wenn sie nicht wetten- sich an den Wettquoten orientieren, weil sie vielleicht „Angst“ haben, dass wenn sie die Sache ganz anders sehen die Jurystimmen aus diesem Land ungültig sind und die EBU „berechnete“ (oder wie man das auch immer nennen mag) Jurystimmen dagegen nimmt!

    Es ist beim JuniorESC-Voting oft echt spannender, weil es dort eben keine Wetten gibt! Ich habe es schon mehrmals erwähnt: Frankreich hatte im letzten Jahr niemand auf dem Schirm, dass die den JESC gewinnen würden!

    • „Also ich würde nach wie vor -wenn es rechtlich irgendwie möglich wäre- die Wetten auf den ESC verbieten!“ Dem kann ich nur zustimmen, auch wenn ich weiss, dass dies niemals durchsetzbar sein wird.
      Für mich sind eigentlich nur noch die Ergebnisse der Semis spannend, da es dort doch ab und zu die ein oder andere Überraschung gibt.

      • Es liegt aber nicht nur an den Wetten. Nach den Semis hat man alle Auftritte einmal gesehen, da braucht man die Wetten nicht mehr, um den Sieger vorauszusagen. In den Semis ist es eben noch Spekulation, was einen erwartet, weil nur die Pressevertreter die Auftritte kennen.

    • In Deutschland sind Wetten auf gesellschaftliche Ereignisse bereits seit 2019 verboten. Der ESC zählt dazu. Wir sehen in den Quoten nur die Auslandsmeinung, insbesondere aus UK

  4. Ich kann beide Seiten in der Wettendebatte gut verstehen. Einerseits glaube ich nicht an einen direkten (!) Einfluss der Wetten auf Juryvotes (ganz frei von Beeinflussung aller Art sind Jurymitglieder aber wohl doch sehr selten). Um die Wetten zu verbieten, ist der Einfluss m. E. n. nicht stark genug, aber ich verstehe andererseits voll und ganz, dass Leute zum Beispiel die Wetten vielleicht vorher lieber nicht mitbekommen wollen (bzw. allgemein dagegen sind), weil es doch viel an Spannung rausnehmen KANN, solange die Wetten so richtig liegen wie in den letzten Jahren. Leider ist es wirklich schwer, den Wetten zu entkommen, wenn man sich auch nur irgendwie in den ESC und die Fanwelt einliest.
    Ich habe leider keinen Lösungsansatz, ich werde mir aber für nächstes Jahr vornehmen, nur noch zu den Wettquoten zu kommentieren, wenn es unter einem Artikel ist, der diese explizit nennt, damit Leute, die davon nicht konfrontiert werden wollen, in anderen Artikeln ihre Ruhe davor haben (dass ich da immer dran denken werde kann ich natürlich nicht garantieren). Vielleicht schließen sich ja andere auch an, um es zumindest ein wenig einfacher zu machen, ihnen zu entgehen.

  5. Ich verstehe, warum die Wettquoten auf den Sieget gerne mit Platzierungsvorhersagen gleichgesetzt werden. Statistisch ist das aber nicht so.

    Ein gutes Beispiel dafür ist Spanien: Die waren auch bei den Quoten auf den letzten Platz unter den Top 10. Die Diskrepanz drückt aus, dass die Streuung des Ergebnisses hoch ist, also der Beitrag schwer einzuordnen ist.

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