Analyse: Ziehen die Favoriten und Top-Beiträge im ESC-Finale immer mehr Punkte auf sich? (Leaving Liverpool 20)

Foto: Chloe Hashemi/EBU

1982 genügten Nicole noch 161 Punkte, um beim Eurovision Song Contest einen Erdrutschsieg einzufahren. Zwischenzeitlich gibt es viel mehr teilnehmende Länder und neue Votingssysteme beim ESC. Da hat ein Sieger dann schon einmal 758 Punkte wie Salvador Sobral 2017 – also fast fünfmal so viele wie Nicole. Und auch Loreen (Aufmacherbild) hat in diesem Jahr mit 583 Punkten anständig abgeräumt.

Beim Autor dieses Artikels hat sich in den letzten Jahren das Gefühl eingestellt, dass – möglicherweise aufgrund der transparenten Wettquoten und klaren Favoritenlage – die Top 3 oder Top 5 eines Jahrgangs immer mehr Punkte auf sich vereinen – und am anderen Ende gehen immer mehr Beiträge mit immer weniger oder gar keinen Punkten nach Hause. So wie die vier Null-Punkte-Songs beim ESC 2021 in Rotterdam. Stimmt dieses Gefühl oder trügt uns die Wahrnehmung? Wir machen eine Datenanalyse – denn Zahlen lügen nicht.

Um nicht nur den Liverpooler Jahrgang zu betrachten, sondern auch mögliche zeitliche Verläufe sehen zu können, schauen wir uns jedes Jahr zwischen 2010 und 2023 an (mit der Ausnahme von 2020, in dem der ESC pandemiebedingt nicht ausgetragen werden konnte). Wir betrachten dabei, wie viele Punkte insgesamt im Finale vergeben wurden. Dann ermitteln wir, wie viele Prozent der Gesamtpunktzahl auf den bzw. die Sieger/in, die Top-3-Beiträge, die Top-5-Beiträge und die Top-10-Beiträge entfielen. Bestätigt sich die Vermutung, dass der prozentuale Anteil z.B. der Top-3-Beiträge der einzelnen Jahre über die Zeit zunimmt?

Wir führen die Berechnungen für die Analyse streckenweise händisch durch; daher kann es zu Fehlern kommen. Wenn Ihr welche findet, gebt uns bitte in den Kommentaren Bescheid. Die Daten in Tabellenform folgen am Ende.

Über die letzten 13 ESCs (2010-2023) sind im Durchschnitt 12,5% aller Punkte eines Jahrgangs auf den Siegerbeitrag entfallen – also jeder achte Punkt. Der entsprechende Wert für die ersten drei Songs (Top 3) beträgt 31,8% (etwa ein Drittel) und der für die Top 5 46,2% (knapp die Hälfte). Bei der Top 10 waren es 70,5%. Die verbleibenden 30% der Punkte teilen sich dann die Lieder, die ab Platz 11 folgen. Das sind dann schon mal 15 weitere Songs.

In diesem Jahr war es so, dass der Siegersong „Tattoo“ von Loreen 583, also 13,4% aller Punkte erhielt. Das ist fast ein Prozentpunkt über dem 13-Jahres-Durchschnitt. Bei der Top 3 waren es 33,8% und damit zwei Prozentpunkte mehr als im Mittel. Ähnlich ist die Differenz bei der Top 5 und der Top 10. Im Jahr 2022, als das Kalush Orchestra mit „Stefania“ für die Ukraine gewann, erhielten sie 13,6% aller Punkte – auch hier also zwei Prozentpunkte mehr als das Mittel. Und auch die 33,5% für die Top 3 entsprechen fast dem Wert aus diesem Jahr. Die Top 10 waren dann aber im letzten Jahr noch stärker: 2022 sammelten diese Beiträge 73,9% aller Punkte ein; in Liverpool waren es 68,1%

In beiden Jahren haben also die Songs, die im Finale weit vorn gelandet sind, relativ betrachtet mehr Punkte erhalten als in früheren Jahren. Das bestätigt also etwas das Gefühl des Autoren. Allerdings sind die Abweichungen vom Mittel nicht so riesig. Und in den letzten Jahren gab es immer noch heftigere Ausreißer – nach oben und nach unten.

Allen voran ist hier das Jahr 2015 zu nennen. Måns Zelmerlöw sicherte sich mit 365 Punkten 15,7% der Gesamtpunktzahl – das ist sogar noch 0,1 Prozentpunkt mehr als Salvador Sobral zwei Jahre später. Dabei hatte er mit Polina Gagarina und Il Volo extrem starke Wettbewerber – oder sehr schwache Konkurrenz von den anderen Acts. Denn die drei Beiträge sicherten sich 41,4% der Punkte des Jahrgangs. Der nächsthöchste Vergleichswert sind 35,9% für die Top 3 im Jahr 2017. Bei so starken Treppchenplätzen überrascht es nicht, dass der Jahrgang 2015 auch bei der Auswertung für die Top 5 (59,2%) und Top 10 (82,6%) eine Klasse für sich ist.

Der Gegenentwurf ist der allgemein für schwach gehaltene ESC-Jahrgang in Düsseldorf 2011. Das aserbaidschanische Siegerduo Ell & Nikki holte sich mit 221 Punkten lediglich 8,9% aller möglichen Punkte. Die Top 3 aus Aserbaidschan, dem Italiener Raphael Gualazzi und dem Schweden Eric Saade vereinte nur 23,9% der Punkte auf sich – im Vergleich zu 31,8% im Durchschnitt ist das wirklich wenig. Umso mehr Punkte blieben auch für die rechte Tabellenhälfte, denn auch die Top 10 erreichte zusammen nur 58,9% der Punkte (Durchschnitt 70,5%).

Wie so oft, kommt es also immer auf die Spezifika eines Jahrgangs an. Gerade wenn die Meinungen von Jury und Televoting bei den Favorit/innen übereinstimmen, sammeln diese natürlich mehr Punkte für die Top 3 ein als in Jahren, wo sich diese Gruppen uneins sind (siehe 2019 das Phänomen KEiiNO). Eine Tendenz der zunehmenden Punktehäufung für die Favorit/innen über die Jahre ist aber in jedem Fall nicht zu erkennen. Das Gefühl des Autoren, dass die vorderen Plätze in letzter Zeit besonders viele Punkte auf sich vereinen, trifft zwar für 2023 und 2022 zu. Aber schon in den Jahren davor, also von 2018-2021 sah das anders aus.

Überraschen Dich die Daten dieser Auswertung oder hast Du damit gerechnet? Siehst Du (dennoch) durch die intensive Favorit/innen-Bereichterstattung im Vorfeld des ESC eine Bevorzugung der Top-Beiträge durch Zuschauer und Jurys im Finale? Lass uns gern Deine Meinung in den Kommentaren da. 

Bisher in der Serie „Leaving Liverpool“ erschienen:


19 Kommentare

  1. Dieses Jahr hatten wir den Fall, dass sowohl Juries als auch Televoting einen sehr klaren Favoriten hatten, was sich im Grunde schon ab März in sämtlichen Umfragen und Prognosen abgezeichnet hat und es damit auch den in den letzten Jahren üblichen Favoriten-Cluster aus 5-6 Ländern nicht gab. das hat den Eindruck sicherlich nochmal verstärkt.
    Im neuen Wertungssystem hatten wir das so nur 2017, da waren sich aber beim Sieger beide Instanzen einig und es war im Vorfeld lange nicht so klar wie dieses Jahr.

  2. Ja ich sehe eine Bevorzugung der Top-Beiträge, allerdings nicht nur wegen der Berichterstattung, sondern auch wegen der Wettquoten!

    Was macht den ein schlauer Mensch, wenn er nicht ins Risiko gehen möchte, sondern stattdessen sicher gehen möchte, dass er beim Wetten gewinnt? Er setzt natürlich auf den aktuell Erstplatzierten bei den Wettquoten, auch wenn dies nicht sein persönlicher Favorit ist! Und beim ESC verhält es sich anders als wie bei Sportwetten, denn beim ESC können die Menschen ja nicht nur auf den Sieger wetten, sondern sie können sich durch die Anrufe beim ESC-Televoting auch noch persönlich daran beteiligen, dass der Erstplatzierte bei den Wettquoten dann auch der Erstplatziere beim ESC selbst wird. Und wenn dieser „schlaue Mensch“, welcher so wettet, dann auch noch Jury-Mitglied ist…

    Ich habe es ja schon oft gesagt bzw. geschrieben, wenn es irgendwie möglich wäre Wetten auf den ESC zu verbieten, dann würde ich dies sehr begrüßen!

  3. Sehr interessante Analyse, danke dafür!
    Was für mich aber das größte Problem ist, ist die sehr frühe Fokussierung der Bubble auf sehr wenige Favoriten. In diesem Jahr hatten wir den extremen Fall, dass quasi im März schon feststand, dass nur zwei (!) Beiträge eine Chance auf den Sieg haben werden. Das finde ich extrem schade. In Jahren wie 2016 und 2021 war diese Fixierung auf nur zwei Songs nicht vorhanden und vor allem 2016 war noch am Finaltag nicht sicher, dass Jamala gewinnen wird.
    Die Odds sind dabei für mich das geringste Problem, sie zu verbieten wird nie funktionieren, da sie dann halt auf irgendwelchen illegalen Seiten auftauchen würden. Und das contra-Odds-Argument, dass viele ESC-ferne Personen sich vor ihrem Voting die Odds anschauen, ist für mich nicht glaubwürdig. Ich gehe stark davon aus, dass sich diese Leute gar nicht dafür interessieren – zumal man die Odds ja auch eigentlich fast nur auf Fanpages findet, die von solchen Gelegenheitszuschauern halt nicht beeucht werden.
    Die Ursachen für diese frühe Festlegung auf (sehr) wenige Fanfavoriten (um mal wieder zum Anfang meines Kommentars zurückzukehren) liegt m.M.n. am sehr starken Zugehörigkeitsdrang des Menschen. Jede(r) in der Bubble möchte irgendwie dazu gehören und ist dem Gruppenzwang ausgesetzt bis er / sie sich auch auf eine klare Seite schlägt. Ein weiterer Aspekt ist, dass durch die Spaltung in nur zwei Fanlager in diesem Jahr (FIN und SWE) die Diskussionen noch weitaus toxischer waren als in den Jahren zuvor und immer versucht wurde, die andere Seiten schlecht dastehen zu lassen, besonders beliebt waren da in diesem Jahr die gegenseitigen Plagiatsvorwürfe.
    Insgesamt würde ich mir einen größeren Pool an Fanfavoriten wünschen und, dass dieser Zwang, sich früh auf einen (breiten) Favoriten festzulegen so nicht mehr weiter besteht. Und wenn es dann noch möglich wäre, am Finaltag noch keinen klaren Siegkandidaten zu haben, wäre mein ESC-Herz vollends zufrieden.

  4. Na ja, 2015 war schon ein sehr starker Jahrgang, wobei ausgerechnet die TOP 3 so gar nicht mein Fall waren und sind. Schwache Konkurrenz sehe ich da keineswegs, bin schon über den Vorsprung von „Hero“ sehr erstaunt.

    • 2015 war auch ein Ausnahmefall und kann nicht so richtig mit den anderem Jahren verglichen werden. In allen anderen Jahren VOR 2015 wurden nur die Top 10 der Jury und des Televotings zusammengerechnet und NACH 2015 wurde beides getrennt gewertet.

      NUR in 2015 wurden die kompletten Top 26 der Jury und Televotings zusammen gerechnet, wobei viele Beiträge die nur bei einem der Beiden gut ankamen und von dem anderen schlecht bewertet wurden, letztendlich keine Punkte erhalten haben. Beiträge die bei Jury UND Televoting gut ankamen, erhielten so immer hohere Punkte.

      • Okay, ich dachte, dass das System nur in 2015 zu Einsatz kam, da es in dem Jahr voll auffällig, war dass die Top 6 gefühlt aus jedem Land immer hohe Punkte bekam.

  5. Vielleicht liege ich ja falsch, aber mein Eindruck ist manchmal, dass die großen ESC-Favoriten bei den Buchmachern oft auch bei den Jurys vorne liegen.

  6. Moin! Ich glaube eher nicht, dass die Wetten den durchschnittlichen Zuschauer beeinflussen. Aber als Jury-Mitglied und als Moderator informiert man sich natürlich im Vorfeld genauer. Auf die Wettfavoriten schaut man dann vielleicht auch etwas genauer. Und als Moderator der einzelnen Länder muss man den Beitrag anmoderieren, also erwähnt man, dass jetzt ein großer Favorit kommt. Das beeinflusst den Zuschauer vermutlich schon. Insgesamt kann ich natürlich nur mutmaßen, aber was ich definitiv für mich sagen kann, ist dass der ESC überraschungsärmer geworden ist.

  7. Off Topic
    Der kroatische Sender hat heute bekannt gegeben am ESC 2024 teilzunehmen und mit DORA wieder den Beitrag zu wählen

    https://eurovoix.com/2023/09/15/croatia-eurovision-2024-participation-confirmed/

    Achtung heute ist die Deadline zur Anmeldung für den ESC bei der EBU.
    Das bedeutet nicht das heute auch veröffentlicht werden muss ob man teilnimmt. Bedeutet das Sender sich angemeldet haben können bei der EBU ohne das zu veröffentlichen.

  8. Vielen Dank für den interessanten Artikel! Ich mag solche Auswertungen bin jedoch nicht überrascht, dass sich die vermutete Bündelung der Punkte nicht nachweisen lässt. Jurypunkte und jeder Teil der Publikumspunkte die von Fans stammen haben vermutlich einen Zusammenhang mit den Wettquoten. Die unbekannte Größe sind die Zuschauervotes von all jenen Zuschauern, die Voten ohne sich vorher tiefer mit den Acts und den Fanmedien zu beschäftigen. Wenn die Anzahl der Televotes von diesen Leuten deutlich größer ist als die Anzahl der Televotes von „rundrum informierten“ ESC Fans, dann bleibt es jedes Jahr spannend. Vermutlich ist die TikTok Reichweite der ESC Akts dann entscheidender als die Wettquoten…

  9. Wobei man auch sagen muss, das 2022 und 2023 „Extreme“ waren. 2022 mit dem Krieg und 2023 mit dem relativ früh festgesetzten „Loreen oder Käärijä“.
    Ich hoffe mal für 2024 das man wieder ein größeres Grüppchen an Favoriten hat oder einen Überraschungsieger und versuche die Wettquoten für 2024 mal zu ignorieren. Seit der Geschichte mit Malta 2021 und den erkauften Wettquoten, bekomm ich bei dem Thema eh immer Bauchschmerzen.

  10. Die Fokussierung auf Favoriten wird sich immer stärker festsetzen, da inzwischen immer mehr Zuschauern klar wird, dass man nur durch strategisches Abstimmen gegen die jedes Jahr immer einseitig abstimmende Jury ankommen kann.

    Sobald die Beiträge Großteils feststehen, weiß man sowieso schon, wofür die Juries stimmen werden.
    Darauf kann man dann nur noch reagieren.

    Ohne Reformation der Abstimmung und/oder der Juries wird das ab nun immer schlimmer werden.

    Wir haben schon festgelegt, dass wir nächstes Jahr nur die Halbfinalen gucken werden und beim Finale nach den Songs abschalten.
    Diesen langgezogenen Nationaljury-Käse, bei dem sowieso klar ist, wer die Punkte kriegt (Nachbarn und 0815 Pop) und bei dem ohnehin nicht über die gleiche Vorstellung abgestimmt wird, kann man sich genauso schenken wie den Ärger, wenn die Juries wieder ihren Favoriten gegen die Zuschauer durchdrücken.

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